Nachhilfe für Kiew

Anderthalb Jahre nach dem Massenmord im Gewerkschaftshaus der südukrainischen Hafenstadt Odessa hat der Europarat die Behörden der Ukraine für die damaligen Ereignisse mitverantwortlich gemacht. In einem am Mittwoch in Kiew vorgestellten Bericht kritisierte die dazu eingesetzte Arbeitsgruppe, dass die Ermittlungen nicht unabhängig geführt worden seien und sich insbesondere gegen Aktivisten der »proföderalistischen« Opposition gerichtet hätten.

Am 2. Mai 2014, wenige Wochen nach dem Sturz der gewählten Regierung in Kiew, hatten sich in Odessa Hooligans, Neofaschisten und Maidan-Aktivisten zu einem »Marsch für die Einheit der Ukraine« versammelt. Sie zogen zum Kulikowplatz, wo Gegner des Putschregimes ein Protestcamp errichtet hatten. Die zahlenmäßig weit unterlegenen Oppositionellen flohen vor dem Mob in das nahe gelegene Gewerkschaftshaus. Dieses wurde von den Nationalisten mit Brandsätzen attackiert, mindestens 42 Menschen starben durch das Feuer. Weitere Menschen wurden ermordet, als Neofaschisten vor dem Haus mit Holzlatten auf sie einprügelten. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte deutlich über der offiziell genannten liegen. Manche Oppositionelle gehen von mehr als 100 Getöteten aus.

Nach Angaben der ukrainischen Behörden wurde das Feuer im Gewerkschaftsgebäude vorsätzlich durch Nationalisten gelegt, die durch eine Hintertür hineingelangen konnten, während andere Molotowcocktails auf das Haus warfen. Die Brandstifter wurden bis heute nicht ermittelt. Der Europarat kritisierte unter anderem, dass die Feuerwehr erst 40 Minuten nach dem Auflodern der Flammen eintraf, obwohl sie sofort alarmiert worden war. Weder die Gründe für diese Verzögerung seien untersucht worden, noch warum auch die Polizei nicht eingriff. »Zutiefst besorgniserregend« sei auch die Entscheidung der ukrainischen Justiz, die Mordermittlungen gegen zwei im Bericht namentlich genannte Nationalisten einzustellen. Diese hatten Zeugenaussagen zufolge mit Holzlatten auf Menschen eingeschlagen, die sich aus den Flammen hatten retten können. Abgeordnete des ukrainischen Parlaments haben sogar den Entwurf eines Gesetzes eingebracht, durch das die beiden mutmaßlichen Mörder und 47 weitere beteiligte Nationalisten amnestiert werden sollen. Über den Antrag wurde noch nicht entschieden.

Die Lage in Odessa ist bis heute angespannt. In der vergangenen Woche verboten die Behörden der Stadt, bei Feierlichkeiten zum 71. Jahrestag der Befreiung der Ukraine von der Nazibesatzung am 28. Oktober das »Banner des Sieges« zu zeigen, die im Mai 1945 auf dem Reichstag in Berlin gehisste Fahne der Sowjetunion. Der Ministerpräsident der international nicht anerkannten Donezker Volksrepublik, Alexander Sachartschenko, nahm das zum Anlass, die Einwohner von Odessa zum Widerstand gegen die Machthaber in Kiew aufzurufen: »Erinnert ihr euch, wie Odessa den Faschisten im Großen Vaterländischen Krieg entgegengetreten ist? Die Stadt kämpfte vom ersten bis zum letzten Tag der Besatzung.« Das »Komitee für die Befreiung von Odessa« griff diesen Appell auf: »Einmal mehr zeigt das Regime der Nationalisten und Oligarchen sein faschistisches Gesicht. Wir erklären, dass wir niemals aufhören werden, für die Befreiung unserer Geburtsstadt von der Macht der Neofaschisten zu kämpfen. Wir erklären, dass wir niemals den Massenmord an unseren Lieben am 2. Mai 2014 vergeben werden.«

Vollständiger Bericht: kurzlink.de/odessa-bericht

Erschienen am 5. November 2015 in der Tageszeitung junge Welt