Mit zwei Stimmen

Venezuelas Präsident Nicolás Maduro hat eine Forderung der Opposition aufgegriffen – und sich damit deren Zorn zugezogen. Während seiner Rede vor Hunderttausenden Anhängern, die sich am 1. Mai auf der Avenida Bolívar im Zentrum der Hauptstadt Caracas versammelt hatten, kündigte der Staatschef die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung an. Es wäre das dritte Mal seit 1961 und 1999, dass sich die Venezolaner eine neue Magna Charta geben. Dabei geht es diesmal jedoch wohl nicht darum, ein grundlegend neues Werk zu schreiben. Am Dienstag erläuterte der Verfassungsrechtler Hermann Escarrá, der von Maduro in die Regierungskommission zur Vorbereitung der Versammlung berufen wurde, im Gespräch mit dem Fernsehsender Telesur, dass das Ziel sei, »die Sozialprogramme, die sozialen Errungenschaften, die Reorganisation des Staates und einige andere Aspekte« in das Grundgesetz aufzunehmen. Die Verfassunggebende Versammlung solle »einen Raum für mehr Dialog zwischen Seiten eröffnen, die heute unversöhnlich scheinen und so der venezolanischen Familie mehr Frieden und Ruhe bringen«.

Nach Artikel 348 der gültigen Verfassung von 1999 hat der Staatspräsident die Befugnis, die Initiative zu einer Constituyente zu ergreifen. Trotzdem behauptete die rechte Opposition sofort, Maduro habe seine Kompetenzen überschritten. Im Parlament verabschiedeten die Abgeordneten der Rechtsparteien am Dienstag (Ortszeit) eine Resolution, in der es heißt, die Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung sei »der höchste Ausdruck des fortgesetzten Staatsstreichs und ein Versuch, die Republik aufzulösen«. Der Abgeordnete José Gregorio Correa von der Partei Primero Justicia (PJ) erklärte im Gespräch mit dem privaten Fernsehsender Globovisión, Venezuela brauche »keine Constituyente, sondern eine neue Regierung«.

Noch vor Monaten hatten die Regierungsgegner jedoch selbst eine solche Versammlung gefordert. Im Dezember 2013 erschien in Zeitungen des südamerikanischen Landes eine Anzeige unter der Überschrift »Venezuela muss eine Constituyente einberufen«. Unterzeichnet hatte sie unter anderem der heutige Parlamentsvizepräsident ­Freddy Guevara. Nun wettert dieser, Maduro wolle »die Staatsmacht entführen«.

Die Opposition ist alarmiert, weil Maduro angekündigt hat, die Versammlung nicht in derselben Weise wählen zu lassen, wie es in der Vergangenheit der Fall war. »Dies wird keine Constituyente der Parteien und der Eliten, sondern eine des Volkes sein«, erklärte Maduro in seiner Rede am 1. Mai. So sollten zum Beispiel die Arbeiter in den Fabriken, die Bewegung der Körperbehinderten, die Rentner oder die Indígenas ihre Delegierten selbst wählen.

Escarrá erläuterte, wie dies passieren soll. »Der Bürger wird zwei Stimmen haben«, kündigte er im Gespräch mit Telesur an. Einerseits könne er einen Vertreter seiner sozialen Schicht wählen, zum anderen wie in allen früheren Prozessen einen Wahlkreiskandidaten. Maduro selbst legte sich noch nicht auf die genauen Modalitäten fest. Wie genau die Entscheidung über die Zusammensetzung der Verfassunggebenden Versammlung erfolge, werde noch diskutiert, erklärte er am Dienstag in Caracas. Die Vorschläge dafür werde er in Kürze dem Nationalen Wahlrat (CNE) vorlegen, der »nach der Verfassung dafür zuständig ist, den direkten, geheimen und allgemeinen Wahlprozess zu organisieren«. Das gesamte Volk werde die Mitglieder der Constituyente bestimmen, betonte er. Zugleich zeigte er sich enttäuscht über die Ablehnung der Opposition: »Ich hatte gehofft, dass sie sagen würden: Eröffnen wir den Dialog, wir werden uns beteiligen. Aber sie verharren in extremistischen Gewaltaufrufen.«

Erschienen am 4. Mai 2017 in der Tageszeitung junge Welt und in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek