Missstimmung unter Verbündeten – In Venezuela gibt es keine Alternative zur Regierung Chávez

Am 23. November werden in Venezuela die neuen Gouverneure der Bundesstaaten und die Bürgermeister der Städte gewählt. Nachdem die revolutionäre Bewegung bei der letzten Wahl am 31.10.2004 alle Bundesstaaten außer Zulia und Nueva Esparta sowie rund 300 Stadtregierungen und die Mehrheit der Abgeordneten in den Lokalparlamenten gewinnen konnte, rechnet sich die Opposition diesmal größere Chancen auf einen Wahlerfolg aus. Tatsächlich sind die Bedingungen heute andere als vor vier Jahren. Damals steckte die Opposition nach dem eindrucksvollen Sieg Chávez´ beim Referendum über seine vorzeitige Abwahl tief in der Krise. Oppositionelle, die wichtige regionale Posten innegehabt hatten, traten zurück und verzichteten auf eine erneute Kandidatur. Andere frühere Gegner des Präsidenten wie Francisco Arias Cárdenas liefen mit ihren Parteien in das Regierungslager über. Die sozialen Missionen im Bildungs- und Gesundheitsbereich zeigten Erfolge und in der Bevölkerung war die Erinnerung an den Putschversuch vom April 2002 und die Erdölsabotage vom Jahreswechsel 2002/03 sehr lebendig.

2008 ist die Lage anders. Im vergangenen Dezember musste die Regierung beim Referendum über die Verfassungsreform erstmals eine Abstimmungsniederlage hinnehmen. Die Euphorie der Anfangsjahre hat einer eher nüchternen Haltung Platz gemacht, in der auch Mängel und Probleme der revolutionären Regierung nicht mehr übersehen werden. Für Fälle von Korruption, die Inflation, gelegentliche Mangelerscheinungen in den Supermärkten und offensichtliche Privilegien von Funktionären können nach fast zehn Jahren Bolivarischer Revolution nicht mehr die früheren Regierungen verantwortlich gemacht werden. Die von Chávez initiierte Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) hat nicht die Anziehungskraft gezeigt, wie sie der Comandante erhofft hatte, während interne Machtkämpfe sogar bereits zu Abspaltungen von der „Einheitspartei“ geführt haben. Dadurch sahen sich die Parteien, die dem Aufruf des Präsidenten zum Anschluss an die PSUV nicht gefolgt waren, darunter die Kommunistische Partei (PCV), in ihrer Haltung bestätigt.

Anfang dieses Jahres hatte Chávez deshalb zur Bildung einer neuen Koalition der revolutionären Parteien, einer Patriotischen Allianz, aufgerufen. Neben der PSUV griffen auch die PCV, die Partei Heimatland für alle (PPT) und andere linke Organisationen die Einladung auf, und tatsächlich schien sich bei mehreren Treffen der Parteispitzen eine neue Form der Zusammenarbeit abzuzeichnen. Das änderte sich jedoch, als führende Vertreter der PSUV immer öfter den Zusammenkünften fern blieben und sich stattdessen auf die Abhaltung parteiinterner Vorwahlen für die Gouverneure und Bürgermeister konzentrierten. Dabei blieben mögliche Kandidaten der verbündeten Parteien von Anfang an außen vor, die Bündnispartner sollten die von den PSUV-Mitgliedern nominierten Kandidaten ohne Wenn und Aber unterstützen.

In vielen Regionen hatten Kommunisten, PPT und andere auch tatsächlich keine größeren Probleme damit, die Kandidaten der PSUV zu unterstützen. In anderen Bundesstaaten kam es aber zu keinen Vereinbarungen zwischen der PSUV und anderen Kräften, sodass hier die Patriotische Allianz – die ja eigentlich alle revolutionären Organisationen zusammenfassen sollte – mit eigenen Kandidaten in Konkurrenz zur PSUV antritt. In Trujillo zum Beispiel hatte der in der Provinzregierung aktive und vor Ort in der Bewegung verankerte Octavio Mejía bei den internen Vorwahlen der PSUV den ersten Platz erreicht. Da er aber die absolute Mehrheit der Stimmen verfehlte, entschieden sich die zentralen Gremien der Partei für den Zweitplazierten, den früheren Finanzminister Hugo Cabezas.

In Umfragen führt nun jedoch Mejía mit mehr als 9 Prozent Vorsprung vor Cabezas, sodass es am 23. November möglicherweise eine böse Überraschung für die PSUV geben könnte. Noch böser wäre die Überraschung allerdings, wenn die Rechte der lachende Dritte wäre.

Präsident Chávez hat seine Verbündeten wegen ihrer Haltung scharf kritisiert. Das Festhalten von PCV, PPT und anderen an ihren eigenen Kandidaten sei „konterrevolutionär“, erklärte er. Diesen Parteien gehe es nur um Pöstchen und eine Teilhabe an der Macht, kritisierte er, obwohl – neben der Mehrzahl ehrlicher Menschen, die Chávez und den revolutionären Prozess unterstützen – auch die meisten Karrieristen längst der PSUV beigetreten sind, um ihre Pöstchen nicht zu verlieren.

PCV-Generalsekretär Oscar Figuera wies diese Vorwürfe umgehend zurück und erinnerte Chávez daran, dass keiner derer, die in der Vergangenheit die Revolution verraten haben, Mitglied der PCV war. Namentlich nannte er den früheren Innenminister Luis Miquilena und den Oberbürgermeister von Caracas, Alfredo Peña, die beide ebenso wie Chávez Mitglieder der damaligen Bewegung Fünfte Republik (MVR) waren. Die Kommunistische Partei brauche sich von niemandem ihren revolutionären Charakter zertifizieren lassen, betonte Figuera, auch nicht vom Präsidenten. Die PCV werte die Äußerungen des Präsidenten als Wahlkampfgetöse: „Ich glaube, es tut ihm selbst weh, dass er so etwas sagen muss“, so Figuera.

Trotz solcher Querelen bleibt Chávez in der Bevölkerung sehr populär. Umfragen ergeben, dass zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung seine Regierungsführung als „gut“ oder „sehr gut“ bewerten. Auch im lateinamerikanischen Maßstab gehören die Venezolanerinnen und Venezolaner zu denjenigen, die ihrer Demokratie die höchsten Noten geben. Und die gegenwärtige Finanzkrise der kapitalistischen Großmächte liefert der Regierung erneut Argumente für ihre Politik. So fragte Chávez während einer Konferenz von Wirtschaftswissenschaftlern in Caracas: „Was wäre passiert, wenn wir das imperialistische und koloniale Projekt einer Amerikanischen Freihandelszone erlaubt hätten?“ Das von den USA angestrebte ALCA-Projekt war 2005 vor allem an den Protesten der Bevölkerung in Lateinamerika und am Widerstand der venezolanischen und anderer Regierungen gescheitert.

Mittlerweile hat sich die von Kuba und Venezuela als Gegenpol zu ALCA gegründete Bolivarische Alternative für die Völker Unseres Amerika (ALBA) zu einem echten Bündnis entwickelt, das immer mehr Einfluss gewinnt. Neben den linken Regierungen Boliviens, Nicaraguas und Dominicas hat in der vergangenen Woche auch das Parlament des liberal regierten Honduras den Beitritt des mittelamerikanischen Landes zu ALBA ratifiziert – und nicht einmal die Konservativen hatten sich angesichts tausender Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude getraut, gegen den Beitritt zu stimmen. Andere linke Regierungen wie die Ecuadors oder die erst seit wenigen Wochen amtierende Paraguays beobachten die Entwicklung noch, beteiligen sich aber an zahlreichen konkreten Integrationsprojekten.

Die reaktionäre Opposition selbst scheint nach wie vor nicht davon auszugehen, den revolutionären Prozess durch Wahlen aufhalten zu können. Im September konnten die Sicherheitsbehörden einen Mordanschlag auf den Präsidenten verhindern. Im Zug der Ermittlungen wurde bekannt, dass hinter dem geplanten Attentat offenbar ein weit verzweigtes Netz steckte, das nicht nur in die US-Botschaft reichte, sondern auch den Eigentümer des Kommerzsenders RCTV, Marcel Granier, umfasste. Die Sendelizenz von RCTV war im vergangenen Jahr nicht verlängert worden, was zu einer internationalen Kampagne gegen die angebliche Verletzung der Meinungsfreiheit durch die Chávez-Regierung geführt hatte. Obwohl RCTV bis heute problemlos über Kabel und Satellit zu sehen ist, bringen US-finanzierte „Menschenrechtsorganisationen“ den Vorgang – durch den Platz für den ersten öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Venezuelas geschaffen worden war – als angebliche „Zensur“ immer wieder zur Sprache. Wie aus einem abgehörten Telefonat hervorgeht, hatte Granie als einer der Drahtzieher des Anschlags offenbar den früheren Verteidigungsminister Raúl Isaías Baduel als „Übergangspräsident“ vorgesehen. Baduel, der sich 2002 noch auf die Seite der verfassungsmäßigen Regierung gestellt hatte, war Ende vergangenen Jahres auf die Seite der Opposition übergelaufen, weil er den sozialistischen Kurs der Regierung nicht mehr mittragen wollte.

Solche Vorgänge zeigen eindringlich, dass die Regierung von Hugo Chávez in Venezuela nach wie vor ohne Alternative ist – denn die Alternative wäre nicht etwa eine noch linkere Regierung, sondern ein reaktionäres Regime möglicherweise faschistischer Prägung, das alle Errungenschaften des revolutionären Prozesses kurz und klein schlagen würde. Auch deshalb wanken auch Venezuelas Kommunisten nicht in ihrer Verteidigung der Bolivarischen Revolution, auch wenn sie hier und da Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung haben.

Erschienen am 17. Oktober 2008 in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit