Mission Chancengleichheit

Geht es nach der venezolanischen Verfassung von 1999, ist die Sache klar: „Jeder, der behindert ist oder entsprechende besondere Bedürfnisse hat, verfügt über das Recht auf volle und eigenständige Entfaltung seiner Fähigkeiten und auf die Integration in Familie und Gemeinschaft…“ (Art. 81) Aber wieder einmal steckt der Teufel im Detail: wie viele Menschen mit Behinderungen gibt es eigentlich in Venezuela? Wer sind sie, was wollen sie und was brauchen sie?

Noch im Herbst 2005 musste das venezolanische Ministerium für Oberschulbildung einräumen, weder über eine genaue Definition, was eigentlich unter Behinderung zu verstehen ist, noch über konkreten Zahlen zu verfügen und referierte unterschiedliche Erhebungen, die von knapp 908.000 Menschen (3,67 Prozent der Bevölkerung) über 1,6 Millionen Menschen (6 Prozent) bis hin zu 2,37 Millionen Menschen (10 Prozent) reichten, die in irgendeiner Weise als behindert galten.

In vergangenen Jahrzehnten waren solche Unklarheiten in Venezuela von den Regierenden durchaus gewollt gewesen. Probleme und Herausforderungen, die man nicht beziffern konnte, konnte man umso leichter ignorieren. So kam es den sich bis 1998 an der Regierung abwechselnden Parteien AD (sozialdemokratisch) und Copei (sozial-christlich) durchaus gelegen, dass Hunderttausende von Menschen aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung nie einen Personalausweis beantragt hatten, denn somit existierten sie für den Staat einfach nicht und konnten auch keine Ansprüche geltend machen, geschweige denn von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen und so eventuell die Kreise der sich vier Jahrzehnte lang an der Regierung abwechselnden Parteien stören.

Das änderte sich mit dem Amtsantritt von Hugo Chávez. Dessen Politik der „Bolivarischen Revolution“ setzte sich zum Ziel, die Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung zu beseitigen und gerade den Armen ihre Würde und ihre Stimme zurückzugeben. Die ab 2003 anlaufenden sozialen „Missionen“ zur Beseitigung des Analphabetismus und wenig später zur Gesundheitsversorgung erreichten auch die entlegenen Gebiete des Landes und deckten zugleich das Ausmaß der „vergessenen“ Bevölkerung auf. Deshalb startete die Regierung in Caracas die „Mission Identität“, die Hunderttausenden von Menschen ohne bürokratischen Aufwand und kostenfrei neue Personalausweise ausstellte und sie in die staatlichen Register aufnahm.

Im März dieses Jahres begann die Regierung nun mit Maßnahmen, um den in der Verfassung festgeschriebenen Rechten behinderter Menschen in Venezuela zum Durchbruch zu verhelfen. Dabei konzentriert sich die Mission „José Gregorio Hernández“, die nach einem 1864 geborenen und 1919 gestorbenen venezolanischem Arzt benannt ist, der für sein Engagement zugunsten der Ärmsten bekannt war, zunächst darauf, die Menschen mit Behinderungen zu erfassen und mit ihnen festzulegen, welche Unterstützungs- oder Betreuungsmaßnahmen eingeleitet werden sollten.

Allein in der Zeit von Mitte März bis Ende April erreichte die neue Mission mehr als 300.000 Menschen im ganzen Land, wie Präsident Chávez stolz bekannt gab. Insgesamt rechnet die Regierung in Caracas mit etwa 600.000 Menschen, die Leistungen erwarten können und hat dafür zunächst mehr als 180 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. „Die Mission kümmert sich um physisch-motorische, geistige, visuelle oder auditive Behinderungen, gleich ob sie angeboren oder später erworben wurden“, erläutert Dexy García vom venezolanischen Informationsministerium. „Das erlaubt, eine bessere und umfangreiche öffentliche Politik zu entwerfen, um diese Tausenden von Menschen zu betreuen, die bislang ohne sozialen Schutz waren.“ Deshalb sei vorgesehen, vor allem im sozialen und familiären Umfeld der Betroffenen zu arbeiten. Spezialisten, Freiwillige, Organisationen, Kommunale Räte und andere Basisstrukturen sollen dabei als Vermittler dienen, um die Behinderten in Künstlergruppen oder Chöre einzubeziehen und ihnen einen Zugang zur Berufsausbildung zu erleichtern. „All dies hat das einzige Ziel, ihre soziale Einbeziehung und die volle Verwirklichung ihrer Rechte auf Chancengleichheit zu verwirklichen“, so García.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez rief beim offiziellen Start der Mission am 15. März alle sozialen Schichten Venezuelas auf, sich am Gelingen der neuen Kampagne zu beteiligen: „Sie sind nicht minderwertig. Dieses Wort muss aus unserem Wortschatz verschwinden. Minderwertig ist eine Sache, die weniger kostet, minderwertig ist der Kapitalismus, der taugt zu gar nichts. Sie sind unsere Landsleute, die den selben Wert haben wie wir alle und oftmals noch mehr als wir, denn die Anstrengungen, die sie geistig und physisch unternehmen, sind viel größer als die, die wir in unserem ganzen Leben unternommen haben.“

Doch die rechte Opposition lässt auch an diesem neuen Projekt der venezolanischen Regierung kein gutes Haar. So titelt die Tageszeitung „El Universal“, eines der wichtigsten Oppositionsblätter, am 5. Mai: „Nur kubanische Ärzte arbeiten in der Mission José Gregorio Hernández“. Nachdem das Blatt jahrelang gegen die angeblich mangelhafte Ausbildung der mehreren tausend kubanischen Ärzte gewettert hatte, die in allen Teilen Venezuelas die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen, reicht nun eine solche Schlagzeile, verbunden mit dem von den Lesern des Blattes als Warnung verstandenen Eingangssatz „Zwischen März und April 2008 ist eine neue Welle kubanischer Ärzte in Venezuela angekommen“.

Im Internet-Forum des ultrarechten Online-Portals „Noticiero Digital“ zeigen die Nutzer, wes Geistes Kind sie sind. So heißt es in einem Kommentar unter einem Bericht über den Start der Mission: „Das ist eine alte Nachricht, denn schon vor langer Zeit hat das Regime ein Programm gestartet, um behinderte Personen zu betreuen. Aber bislang hieß das Regierung  und die Mitglieder wurden Chavistas genannt, nicht Behinderte“. Und ein weiterer legt nach: „Sie bilden also eine weitere Parallelpartei (zur neuen Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas) und mit denselben Leuten, denn sie sind alle geistig behindert“.

Hugo Chávez fordert unterdessen die Institutionen des Staates und die Gemeinden vor Ort auf, den Behinderten die Möglichkeit zu eröffnen „zu leben und nicht lebend tot in einem Zimmer zu liegen“. Die Hälfte der untersuchten Menschen sei in der Lage, einen aktiven Beitrag für das Zusammenleben in der Gemeinde zu leisten: „Vielleicht können sie nicht gehen, aber sie können arbeiten, denn alle anderen Glieder funktionieren“. Bislang hätten nur die eigenen Familien von diesen Menschen gewusst, „aber Dank dieser Mission wissen wir nun alle davon!“

Erschienen am 9. Juli 2008 in der Beilage "Behindertenpolitik" der Tageszeitung junge Welt