Militär gegen Streikende

Zehntausende Menschen sind auch am Montag in Istanbul, Ankara und vielen anderen Städten der Türkei auf die Straße gegangen, um gegen die Polizeigewalt der vergangenen Tage zu protestieren und den Rücktritt von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan zu fordern. Fünf Gewerkschaften und Berufsverbände hatten gemeinsam zu einem Generalstreik aufgerufen, und vielerorts verließen ihre Mitglieder die Betriebe. Die Polizei ging immer wieder mit Wasserwerfern, Tränengas und Knüppeleinsätzen gegen die Ansammlungen vor.

 

Die Regierung setzt inzwischen voll auf die gewaltsame Unterdrückung der Protestbewegung. Am Montag drohte der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc offen mit dem Einsatz der paramilitärischen Jandarma und der Armee gegen die Demonstranten und kündigte an, daß alle Kundgebungen und Versammlungen sofort aufgelöst würden. »Es gibt die Polizei. Wenn das nicht reicht, gibt es die Jandarma. Wenn das nicht reicht, gibt es die Türkischen Streitkräfte«, warnte Arinc im Gespräch mit dem Fernsehsender A Haber. Die Demonstrationen hätten nichts mehr mit den Protesten um den Gezi-Park im Zentrum Istanbuls zu tun und seien nicht mehr legal. Die Massenbewegung war Ende Mai gerade durch den brutalen Polizeieinsatz gegen die gewaltfreien Umweltschützer ausgelöst worden.

Nach Angaben der Menschenrechtsstiftung TIHV hat die Unterdrückung der Proteste durch die Polizei bislang vier Menschenleben gefordert. 11823 Menschen seien verletzt worden, zehn Personen hätten durch die Gasattacken ihr Augenlicht verloren. Die Organisation kritisierte am Montag, daß bislang keine Bemühungen sichtbar seien, die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, obwohl beispielsweise in einem Fall die Helmnummer des Polizisten bekannt sei, der einen Demonstranten erschossen hatte. Statt dessen würden Rechtsanwälte und Ärzte, die den Protestierenden zu Hilfe eilten, festgenommen. Zudem gehe die Polizei in anderen Städten, die nicht wie Istanbul im Blick der Weltöffentlichkeit stünden, noch brutaler gegen die Demonstranten vor. »Wohlgemerkt: Abdullah Cömert wurde in Antakya, Irfan Tuna und Ethem Sarisülük in Ankara und Mehmet Ayvalitas in Istanbul durch die Polizei ermordet«, schreibt die TIHV in einer Erklärung.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich am Montag angesichts der Ereignisse »erschrocken« und kritisierte im Gespräch mit RTL: »Das entspricht nicht unseren Vorstellungen von Freiheit der Demonstration, der Meinungsäußerung.« Konkrete Sanktionen gegen Ankara erwähnte sie nicht. Demgegenüber fordert die deutsche Friedensbewegung von der Bundesregierung »energische Initiativen« zur Unterstützung der Protestbewegung. »Ein vager Hinweis auf die menschenrechtlichen Regeln des Europarates durch Außenminister Westerwelle ist nach der brutalen Räumung des Gezi-Parks und der Kriegserklärung gegen die weiter Protestierenden durch Erdogan eine sehr schwache Reaktion«, kommentiert Manfred Stenner vom Netzwerk Friedenskooperative am Sonntag im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Nötig seien die sofortige Aussetzung jeder Rüstungszusammenarbeit mit der Türkei, der Abzug der »Patriot«-Raketen der Bundeswehr und ein Embargo für die Lieferung von Polizeiausrüstung.

Erschienen am 18. Juni 2013 in der Tageszeitung junge Welt