Mafia rechnet ab

Der Mord an einem Oppositionspolitiker in Venezuela wirft Fragen auf. Luis Manuel Díaz, der regionalen Chef der sich als sozialdemokratisch verstehenden Partei »Acción Democrática« (AD), war am Mittwoch abend (Ortszeit) am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Altagracia im Bundesstaat Guárico erschossen worden. Unmittelbar danach hatte AD-Generalsekretär Henry Ramos Allup über den Kurznachrichtendienst Twitter verbreitet, sein Parteifreund sei »aus einem Fahrzeug« heraus von »bewaffneten Banden der PSUV« erschossen worden, als er gerade bei der Kundgebung auf der Bühne gestanden habe. Obwohl Sprecher der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) sofort jede Verantwortung für das Verbrechen zurückwiesen, machte die Nachricht international die Runde. Dabei stützten sich alle Agenturen zunächst nur auf die Erklärung Allups. AFP verbreitete etwa: »Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Venezuela ist ein Kandidat der Opposition auf offener Bühne erschossen worden. (…) Neben Díaz auf der Bühne stand demnach die Ehefrau des inhaftierten Oppositionsführers Leopoldo López von der rechtskonservativen Partei Voluntad Popular (Volkswille).«

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die US-Administration, die EU und andere internationale Organisationen reagierten sofort auf den Vorfall. Während die Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) die Behörden Venezuelas zu einer eingehenden Untersuchung aufforderte und ihr Generalsekretär Ernesto Samper als Zeichen gegen die Gewalt zu einer hohen Beteiligung an der Parlamentswahl am 6. Dezember aufrief, machte OAS-Generalsekretär Luis Almagro die Regierung von Präsident Nicolás Maduro direkt für gewaltsame Übergriffe auf ihre Gegner verantwortlich. Sie verfolge eine »Strategie der Einschüchterung der Opposition«. Maduro attackierte Almagro daraufhin als »Dreck«.

Die PSUV hat inzwischen angekündigt, Allup wegen übler Nachrede zu verklagen. Den Prozess könnte sie gewinnen, denn die Ereignisse in Altagracia können sich offenkundig nicht so abgespielt haben, wie es der AD-Chef behauptet hatte. Im kolumbianischen Fernsehsender NTN24, der als Sprachrohr der venezolanischen Opposition gilt, berichtete Rosa Orozco – eine aktive Regierungsgegnerin und Teilnehmerin der Kundgebung – über die Ereignisse. Die Straße vor der Bühne sei sehr voll gewesen, weil viele Menschen an der Kundgebung teilgenommen hätten. Die Veranstaltung sei gerade beendet worden, und Díaz habe die Bühne verlassen, als die Schüsse fielen. »Wir dachten zuerst, er sei gestolpert«, erklärte Orozco. Er habe hinter der Bühne in seinem Blut gelegen und sei sofort ins Krankenhaus gebracht worden, wo er kurz darauf starb. Der Moderator der Sendung fragte nach, ob sich Lilian Tintori in der Nähe des Opfers befunden habe. Die Ehefrau von Leopoldo López ist aktuell der Star der Opposition und hatte an der Kundgebung teilgenommen. Sie habe jedoch in diesem Augenblick nicht neben Díaz gestanden, sondern sei noch auf der Bühne gewesen, erklärte Orozco.

Das hielt Tintori nicht davon ab, über Twitter zu behaupten: »Das spritzende Blut von Luis Manuel traf mich auf der Bühne, als zehn verbrecherische Kugeln ihm das Leben nahmen.« Bei einer Pressekonferenz am Donnerstag abend (Ortszeit) erklärte sie zudem theatralisch, sie sei überzeugt davon, selbst das Ziel des Anschlags gewesen zu sein: »Sie wollen mich umbringen.«

Inzwischen verdichten sich jedoch Hinweise darauf, dass Díaz einem Bandenkrieg zum Opfer gefallen sein könnte. Der Gouverneur des Bundesstaates Guárico und frühere venezolanische Innenminister Ramón Rodríguez Chacín erklärte bei einer Pressekonferenz, Díaz, der auch unter dem Namen »La Crema« bekannt gewesen sei, habe sich als Mitglied einer Verbrecherbande »am Paramilitarismus, der organisierten Kriminalität, Erpressung und der Organisation von Aufständen« beteiligt.

Die Gruppe »Los Plateados« liefert sich nach Informationen des Fernsehsenders TeleSur seit einiger Zeit blutige Auseinandersetzungen mit einer konkurrierenden Gruppe um den Gangsterboss »El Picure«. Dabei geht es um die Kontrolle der eher Mafiastrukturen als Arbeiterorganisationen gleichenden »Betriebsgewerkschaften« auf Großbaustellen in der Region. Nach Informationen der Regionalzeitung La Antena war Luis Manuel Díaz der Chef einer solchen Gewerkschaft der Bauarbeiter in der Erdölindustrie. Wie der Wahlkampfchef der PSUV, Jorge Rodríguez, bei einer Pressekonferenz erklärte, soll Díaz in dieser Funktion mit dem Bürgermeister von Chaguaramas, Yovanni Salazar, um die Kontrolle über die »Gewerkschaften« konkurriert haben. Rodríguez deutete an, dass Salazar den Mord in Auftrag gegeben haben könnte.

Der gewerkschaftspolitische Sprecher der Kommunistischen Partei Venezuelas, Pedro Eusse, hatte das Phänomen der Mafiastrukturen auf dem Bau schon 2013 in einem Artikel für die Parteizeitung Tribuna Popular detailliert beschrieben: »Es sind viele Gewerkschaften entstanden, von denen viele nicht aufgrund einer Entscheidung der Arbeiter zur Verteidigung ihrer legitimen Interessen gegründet wurden, sondern von Leuten geschaffen wurden, die keine Bauarbeiter sind. Sie entdeckten, dass es ein ›gutes Geschäft‹ ist, eine Baugewerkschaft zu leiten, ebenso wie das Betreiben einer Spielhalle, das Veranstalten von Pferdewetten, der Schmuggel über die Grenze oder der Drogenhandel, aber mit einem zweifellos legalen Rahmen, unter dem Schutz der Arbeitsgesetze und der Vorteile, die der Tarifvertrag dieser Industrie gewährt. Für einige war es nicht nur ein ökonomisch gutes Geschäft, sondern hat ihnen auch noch eine gewisse gewerkschaftliche und politische Macht gewährt.«

Eusse spielte in seinem Beitrag auf eine Besonderheit an, die es seit Jahrzehnten im zentralen Tarifvertrag für das Baugewerbe in Venezuela gibt. In diesem werden die »Arbeitgeber« verpflichtet, 75 Prozent der benötigten Arbeiter von den Gewerkschaften anzufordern. Umgekehrt sind die Gewerkschaften verpflichtet, die geforderte Zahl von Beschäftigten innerhalb von fünf Arbeitstagen zur Verfügung zu stellen. Diese Regelung geht noch auf das frühere venezolanische Arbeitsgesetz zurück, das inzwischen reformiert wurde. Dabei wurde auch die besagte Regelung gestrichen, in dem geltenden Vertrag ist die Klausel aber noch enthalten.

Erschienen am 28. November 2015 in der Tageszeitung junge Welt