»Liebe, Bewußtsein und Revolution«

Gespräch mit Dame Pa’ Matala aus Venezuela über Musiker als alternative Multiplikatoren, Reggaeton und Kommerz sowie das Eindringen in die Charts

»Dame Pa’ Matala«, derzeit eine der erfolgreichsten Musikgruppen Venezuelas, besuchte am Montag die jW-Redaktion. In kompletter Besetzung stellten sich William Alvarado, Pedro Blanco, Jesús Lozada, Arturo Alvarado, Harry Ramos, Juan Carlos Marín und Daniel Méndez unseren Fragen – und uns vor das schier unlösbare Problem, aus dem angeregten Gespräch ein lesbares Interview zu extrahieren. »Nehmt unsere Antworten einfach als kollektive Meinung der Gruppe«, schlug Pedro vor – und so geschah es.

Dame Pa’ Matala gibt es jetzt seit sechs Jahren. Wie habt ihr euch gefunden, wie ist die Gruppe entstanden?

Wir stammen alle aus San Felipe im Bundesstaat Yaracuy. Wir kannten uns schon aus verschiedenen kulturellen Projekten. Einige von uns haben vorher HipHop gemacht, andere Rock, Salsa, E-Musik im Rahmen des Sistema der Kinder- und Jugendorchester. (Im Rahmen einer staatlichen Stiftung erhalten rund 350000 Kinder und Jugendliche kostenlos eine Instrumentenausbildung, Anm. d. Red.) So etwa 2006 haben wir dann beschlossen, zusammen an den Strand zu gehen, um dort Kunsthandwerk an die Touristen zu verkaufen. Unsere Heimatorte sind vielleicht eine Autostunde vom Nationalpark Morrocoy entfernt, in dem es einen der schönsten Strände des Landes gibt. Außerdem wollten wir ja unsere Botschaft verbreiten, und da wir nicht ganz Venezuela bereisen konnten, sind wir an einen Ort gegangen, an dem ganz Venezuela zusammenkommt: Chichiriviche, das Teil des Nationalparks Morrocoy ist.

Wie viele Mitglieder hat eure Gruppe insgesamt?

Als Musiker, die auf der Bühne stehen, sind wir sieben. Das gesamte Kollektiv zusammen sind wir aber 18, 20 Leute, denn dazu gehören die Techniker, die CD-Verkäufer, der Fahrer, der Kameramann – alle gehören zum Kollektiv, und alle profitieren davon. Wir sind sogar ganz offiziell als Kooperative organisiert.

Und warum seid ihr so viele?

Das ist vielleicht ein Ergebnis der Bewegung, die wir in Venezuela erleben. Die Revolution und unser Comandante, Präsident Chávez, haben uns, die ganze Gesellschaft, aufgerufen, uns in unseren Gemeinden zu organisieren. Wir haben das auf uns bezogen. Wir waren ja alle in einzelnen Projekten aktiv, haben uns aber zusammengesetzt, um etwas Gemeinsames zu machen.

Frauen sind bei euch nicht dabei?

Auf der Bühne, unter den Musikern, ist tatsächlich keine Frau dabei, aber bei der Entscheidungsfindung und allem drumherum sehr wohl. Unsere Termine werden von einer Compañera verwaltet, die sehr viele Dinge für uns entscheidet. Sie kümmert sich auch um die Vermarktung und den Vertrieb. Wir haben dafür kein Talent, wir würden unsere CDs einfach verschenken, aber dann würden wir ziemlichen Ärger mit ihr kriegen. Und bei der internen Entscheidungsfindung hat sowieso bei jedem von uns die Frau oder Freundin das letzte Wort. Unsere Familien sind bei der ganzen Entscheidungsfindung, bei den Tourneen und bei der Videoproduktion einbezogen. Und ganz nebenbei fördern wir ja auch noch andere Gruppen.

Wie können wir uns eure Arbeit praktisch vorstellen? Schreibt jemand von euch ein Lied, stellt es dann allen anderen im Plenum vor, und die sagen dann: Das gefällt uns oder das gefällt uns nicht – und am Ende wird abgestimmt?

Wir haben keine feste Geschäftsordnung. Aber tatsächlich wird das Lied der Gruppe vorgestellt und dann von allen diskutiert. Das passiert ganz detailliert: Das Wort paßt da nicht rein, die Formulierung ist falsch, diese Botschaft gefällt mir nicht, schreib doch noch das und das. Auf der jüngsten CD gibt es zum Beispiel ein Lied »Haut ohne Silikon«, das sich kritisch mit plastischer Chirurgie, mit Schönheitsoperationen, auseinandersetzt. Das haben wir intensiv diskutiert, und einer von uns hat dann die genauen Zahlen nachrecherchiert: So viele Menschen sterben bei derartigen Operationen, so viele Fehler passieren – und aus den ganzen Diskussionen und Zahlen ist das Lied entstanden. Bei den Diskussionen sind natürlich nicht immer alle Techniker oder so dabei, wir haben keine Satzung mit einer Mindestbeteiligung oder so festgelegt. Aber wir akzeptieren Kritik. Wenn unser Fahrer zum Beispiel etwas anmerkt, nehmen wir das in die Überlegungen mit auf.

Daraus ist dann etwas ganz eigenes entstanden. Wir würdet ihr selbst euren Stil beschreiben?

Unsere Musik entwickelt sich sehr experimentell. Am Anfang haben wir mit den typischen Rhythmen Venezuelas begonnen, dann haben wir das mit Salsa vermischt, später ist HipHop dazu gekommen und schließlich die Flöte. Wir gehen von dem Grundsatz aus, daß Musik universal ist. So wie sich die Menschen vermischen, kann sich auch die Musik, können sich die verschiedenen Stile und Richtungen der verschiedenen Länder vermischen. Wenn du unsere Musik anhörst, spürst du eine Entwicklung von der ersten zur jüngsten CD. Wir können selbst nicht sagen, wie sich die nächste CD anhören wird. Das Entstehen eines neuen Albums ist immer eine Suche, eine Erforschung der Rhythmen, um unsere Botschaft noch besser, noch weiter verbreiten zu können. Ein totales Crossover also.

Hinzu kommt, daß die Musik für Verständigung zwischen den Kulturen sorgt. Der HipHop aus dem Norden verträgt sich mit dem venezolanischen Tambor und der Salsa der Karibik. Das gilt nicht nur für Fiestas und Parties, sondern auch für die Konstruktion eines sozialen Diskurses und für politische Proteste. Aber es geht uns nicht um Protest um des Protestes willen, sondern um einen Vorschlag zur Veränderung der Diskussion, zur Öffnung der Debatte.

Wenn ihr versuchen würdet, eure Botschaft in ein paar Schlagwörter zu verpacken – welche könnten das sein?

Liebe, Heimatland, Unabhängigkeit. Bewußtsein und Revolution. Wir möchten Sprachrohr der Mehrheit, Stimme der Jugend sein. Wir saugen auf, was wir an Impulsen von außen bekommen, und singen dann nicht nur, was wir selber denken, sondern was viele, was die Mehrheit, fühlt und denkt.

Wir sind ja am Strand entstanden und haben dort die Eindrücke der ganz verschiedenen Menschen aufgegriffen, die aus ganz verschiedenen Teilen Venezuelas dort zusammengekommen sind. Auch jetzt, wenn wir unterwegs sind, stellen wir immer wieder fest, daß wir etwas gemeinsam haben und daß uns dieselben Probleme beschäftigen. Uns fällt es nur leichter, dies über die Musik zu transportieren, als vielleicht einigen anderen, die auf sich allein gestellt sind.

Wenn ihr vom Zusammenführen der verschiedenen Musikstile sprecht, laßt ihr einen aus. Den Reggaeton lehnt ihr ab und habt sogar ein Lied dagegen veröffentlicht …

Jede Musik, jedes Lied, verbreitet eine Botschaft, einen sozialen Inhalt. Unsere Botschaft ist die des gesellschaftlichen Aufbaus, des Bewußtseins für die Menschheit und die Pachamama, die Mutter Erde, die Umwelt. Wir sehen uns als Sprachrohr für diese Inhalte, nicht für die Botschaft, die die Industrie mit Reggaeton und Rumba verbreiten will: Egoismus, Gier nach Reichtum, Konsum. Unsere Botschaft ist die einer neuen Gesellschaft.

Momentan befindet ihr euch in Venezuela auf einer Tournee durch 40 Städte, die ihr für den Besuch in Deutschland unterbrochen habt. Wie sind dort eure Erfahrungen?

Wir stellen auf der Tournee unsere dritte Produktion vor, die CD »Movimiento Latino«. Sie spiegelt die Erfahrungen unserer Reisen durch Amerika und die Botschaft eines vereinten Kontinents wieder.

Die Konzerte in unserem Land sind für uns besonders, weil wir natürlich durch die gemeinsame Sprache nicht eingeschränkt sind und die Menschen dieselben Erfahrungen haben wie wir. Die Venezolaner verstehen also die sozialen Inhalte der Lieder und nehmen sie an.

Mich hat bei einem früheren Konzert allerdings auch der Empfang durch das Publikum in Argentinien begeistert. Wir sind dort sehr warmherzig aufgenommen worden, obwohl wir vorher gewarnt wurden, daß die Argentinier etwas kühl wären. Merkwürdige Erfahrungen haben wir natürlich auch gemacht. Wir sind in Venezuela mal bei einem Festival aufgetreten, auf dem außer uns 50 Reaggaeton-Bands gespielt haben, und als letztes Lied haben wie »Fuckin’ Reggaeton« gespielt, und sogar einige der Organisatoren waren ziemlich sauer auf uns. Das war ein ziemlich stressiges Erlebnis.

Wie viele Menschen kommen in Venezuela zu euren Konzerten?

Wir spielen an ganz unterschiedlichen Orten. Es gibt Auftritte in kleinen Gemeinden ohne Bühne, und dann gibt es große Bühnen, wo wir vor 15000 oder 20000 Menschen spielen, auch gemeinsam mit berühmten Bands wie Calle 13 oder Molotov. Aber wir spielen weiter auch in den kleinen Gemeinden. Auch aus solchen Konzerten besteht die Tournee. Wir zählen als Konzerte nicht nur die Auftritte auf den großen Bühnen, sondern auch die kleinen Gigs in den Gemeinden.

Wie viele Platten muß man in Venezuela verkaufen, um auf Platz 1 der Charts zu kommen?

Gezählt wird, welches Lied am häufigsten im Rundfunk gespielt wird. Daraus ist ein richtiger Markt entstanden: Die Musikfirmen zahlen dafür, daß die Musik ihrer Bands im Radio gespielt wird, und je mehr Leute das dann hören, desto höher klettert das Lied in den Charts.

Uns ist es gelungen, das ein bißchen zu verändern. Inzwischen gibt es in Venezuela mehr alternative Basisradios und Gemeindefernsehsender als kommerzielle Stationen. Gruppen wie wir sind am Anfang nicht in den kommerziellen Sendern gelaufen, sondern nur von den alternativen Stationen gesendet worden – damit aber insgesamt viel mehr als die kommerziellen Künstler. Inzwischen rufen uns die Kommerzsender an, spielen uns, interviewen uns. Aber wir haben nie etwas dafür bezahlt.

Die privaten Sender stehen vor allem der Opposition nahe?

Ja, die meisten schon, auch wenn sich die Lage allmählich verändert und nicht mehr alle so aggressiv sind. Einige unserer Lieder haben in ihren Charts die vorderen Plätze erreicht.

Hat die Opposition auch Bands? Gibt es rechte politische Bands?

Es gibt ein paar Bands, die sogar unser Konzept kopiert haben. Aber sie haben keine Inhalte. Die Botschaft der Opposition ist, keine zu haben. Ihr einziger Inhalt ist, alles zu kritisieren, was die Regierung macht. Letztlich haben sie auch keine eigene Überzeugung, sondern spielen halt für jeden, der bezahlt. Und es gibt weniger politisch ausgerichtete Bands, die auch zu offiziellen Veranstaltungen eingeladen werden. Uns paßt es aber nicht, wenn so eine Gruppe wie etwa Desorden Público bei einer vom Staat organisierten und bezahlten Veranstaltung auftritt und ihre Lieder spielt und irgendwann, kurz vor Schluß ihres Auftritts, irgendwas von »Diktatur« oder so in die Menge ruft, um sich bei den Rechten anzubiedern.

Seid ihr selbst letztlich nicht auch ein Produkt des Fernsehens? Ich habe euch jedenfalls zuerst im venezolanischen Fernsehen kennengelernt, wo das Video zu eurem Lied »En favor de la paz« (Für den Frieden) promotet wurde.

Wir und viele andere Gruppen, die eine ähnliche Arbeit machen – auch in anderen Ländern wie zum Beispiel in Kuba oder Argentinien – sind das Ergebnis einer Revolution, die sich in ganz Amerika vollzieht. Wir erleben ein Erwachen des Bewußtseins, das durch Persönlichkeiten wie Präsident Chávez und viele Staatschefs Lateinamerikas verkörpert wird. Sie rufen das Volk auf, die Entscheidungen in die eigene Hand zu nehmen: Was wollen wir? Wie wollen wir das erreichen? Unsere Stärke ist die Musik, und so verbreiten wir unsere Botschaft durch die Musik. Wir sind ein Produkt dieser südamerikanischen Bewegung.

Die neuen Fernsehsender, die neuen Rundfunkstationen bieten eine neue Gedankenwelt, neue, revolutionäre Ideen. Und wir sind ein Teil davon. Wir fühlen uns davon nicht ausgenutzt, sondern die Sender verbreiten über unsere Musik, was das Volk sagt und denkt. Letztlich sind auch wir als Gruppe alternative Multiplikatoren und verbreiten unsere Inhalte über die Lokalradios und über unsere Konzerte. Unsere große Verantwortung ist, die Wahrheit zu sagen und zu verbreiten – und zwar die Wahrheit der Barrios, der Armenviertel.

Auf euch trifft also ähnliches zu, was Chuck D von Public Enemy einmal über seine Gruppe gesagt hat: Ihre Musik sei das CNN der Schwarzen und Unterdrückten in den USA?

Wir machen Unterhaltung, um Multiplikatoren der Botschaft aus der Sicht der Barrios und der Gemeinden sein zu können, aus denen wir ja selber kommen. Dabei sind wir auch selbstkritisch dem Prozeß gegenüber, den wir erleben. Wir unterstützen, was der Staat gut macht, aber wir kritisieren auch, was schlecht läuft, und machen Gegenvorschläge.

Was hört Präsident Chávez eigentlich privat?

Den ganzen Tag nur Dame Pa’ Matala! Spaß beiseite: Er stammt aus den Llanos und hat deshalb schon familiär die größte Nähe zur Música Llanera, zur Musik der weiten Ebenen Venezuelas. Aber er ist zugleich immer up to date, was aktuell zu hören ist. Wir haben selbst erlebt, daß wir im Fernsehen zu Gast und live auf Sendung waren und er anrief, um mit uns zu singen. Und dann haben wir zusammen ein Lied von uns gesungen.

Die Rolling Stones haben kürzlich ihr 50. Bandjubiläum gefeiert. Könnt ihr euch vorstellen, als Band auch so alt zu werden?

Es klingt jetzt vielleicht verrückt, aber ich würde sagen: 50 Jahre und noch länger. Das ist etwas, das sich ergeben muß. Wir sind jetzt sechs Jahre zusammen, und alles ist im Fluß. Momentan läuft es gut, wir haben jetzt unser drittes Album, und es kann gerne noch lange weitergehen. Aber wenn es irgendwann mal nicht mehr läuft, dann eben nicht mehr. Alles hat seine Phasen.

Wenn ihr irgendwann den 50. Geburtstag eurer Band feiert – ist dann ganz Lateinamerika sozialistisch?

Hoffentlich. Und wir hoffen, daß es sogar noch weiter reicht, wie auch immer diese Gesellschaft dann heißt. Eine Gesellschaft, die näher an der Erde, verbundener mit der Pachamama ist.

Erschienen am 4. August 2012 in der Tageszeitung junge Welt. Das Interview habe ich gemeinsam mit Christof Meueler geführt