Kueka vor der Heimkehr?

Im Berliner Tiergarten, unweit des Brandenburger Tores, liegt ein großer Stein. Der rund 30 Tonnen schwere, polierte Fels leuchtet rötlich in der Sonne und erinnert von der Form her an ein U-Boot oder einen Wal. Am vergangenen Freitag versammelten sich hier ein Dutzend Indígenas aus Venezuela in traditioneller Kleidung, tanzten um den Stein herum, brachten ihm Obst als Opfergaben dar und sprachen mit ihm.

»Sie haben ihn jetzt aufgeweckt, von zu Hause erzählt und versprochen, ihn nach nach Hause zu holen«, erläutert Stella Zambrano im Gespräch mit junge Welt die stundenlange Zeremonie. Die schlanke, weißhaarige Frau stammt selbst von Indígenas ab, ihre Großmutter war Pemón. Sie selbst lebte lange in Düsseldorf, kehrte dann aber in die Gran Sabana im Südosten Venezuelas zurück. Die Indígenas nennen sie Tawy Pachi, die weiße Pemón. Der Fels hat für die Indígenas eine ganz besondere Bedeutung: »Sie nennen ihn Kueka. Er ist ihre Großmutter, und letztlich sogar die Beschützerin ganz Venezuelas.«

In der Glaubenswelt der Pemones war der Stein einst eine junge Frau aus dem Stamm der Macuchí, die sich in einen jungen Taurepan-Pemón verliebte. Das erzürnte den eifersüchtigen Gott Makunaima, der Verbindungen zwischen Angehörigen der verschiedenen Stämme verboten hatte. Weil aber die Liebe zwischen beiden so groß war, entschied er, dass sie für alle Zeiten vereint sein sollten – als Steine. Über Jahrtausende lagen die Liebenden so nebeneinander in der Gran Sabana – bis 1998 der Weltumsegler Wolfgang Kraker von Schwarzenfeld kam und einen der beiden Steine nach Berlin holte, um ihn zu einem Teil seines Projekts »Global Stone« zu machen. Auf seiner Homepage erklärt der 1933 geborene Künstler, wie er auf den fünf Kontinenten jeweils zwei durch Material, Form oder Herkunft »besonders charakteristische Steine« ausgesucht habe. Diese wurden von ihm behauen, poliert und beschriftet. »Einer der beiden Geschwistersteine verbleibt im Land seiner Herkunft. Der zweite Stein geht auf die Reise nach Deutschland.« Die in den jeweiligen Heimatländern gebliebenen Steine liegen demnach »mit ihrer Spiegelfläche in einem Winkel zur Sonne, so dass sie am 21. Juni das Licht zurück zur Sonne reflektieren und es in einer Frequenz von 16 Minuten um die Erde zu ihren Schwestersteinen nach Berlin senden«. Dort sollen zwischen den im Kreis liegenden Steinen »fünf unsichtbare Linien aus Licht« entstehen. Schwarzenfeld meint, dass auch in diesem Jahr am Tag der Sommersonnenwende um genau 13 Uhr ein »Kreis aus Licht zwischen den Steinen als Symbol einer geeinten Menschheit in Frieden« sichtbar werden wird.

Selbst wenn man daran glaubt, dass so etwas möglich wäre – der »Schwesterstein« eines aus Australien nach Berlin transportierten Bändererzblocks liegt Schwarzenfeld zufolge in Canberra. Wenn am 21. Juni in Berlin Mittag ist, herrscht dort bereits dunkle Nacht. Und auch aus Venezuela wird kein Stein Sonnenstrahlen reflektieren: Nachdem er jahrelang vergessen und beschmiert an der zentralen Avenida Bolívar in der Hauptstadt Caracas gelegen hatte, musste der »Schwesterstein« inzwischen dem Wohnungsbau weichen. Wo er abgeblieben ist, weiß niemand. Die Pemones interessiert es nicht, denn jener Brocken ist für sie nichts Besonderes. Ihr »Großvater«, der zu Stein gewordene Jüngling, liegt bis heute in der Gran Sabana und wartet auf die Rückkehr der Geliebten.

Seit fast 20 Jahren fordern die Pemones die Rückgabe von »Großmutter Kueka«, gegen dessen Abtransport es schon Ende der 90er Jahre wütende Proteste gegeben hatte. Unbestritten ist zwar, dass Schwarzenfeld die erforderlichen Genehmigungen eingeholt hatte, nach Ansicht der Regierung in Caracas hatte der die Papiere ausstellende Beamte dazu aber kein Recht. Immer wieder gab es in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten deshalb politische und diplomatische Bemühungen. Zuletzt kochte das Thema im Sommer 2012 hoch – Pemones demonstrierten vor der deutschen Botschaft in Caracas, Regierungsvertreter reisten nach Berlin und Abgeordnete der Linkspartei stellten eine kleine Anfrage im Bundestag. Das Kabinett befürwortete damals eine »Rückschenkung und anschließende Rückführung« des Steins, »soweit sie im Einvernehmen aller Beteiligten erfolgen.«

Danach verschwand »Kueka« wieder von der Tagesordnung. Der Verdacht liegt nahe, dass »Kueka« den Behörden in Venezuela bevorzugt als Wahlkampfthema dient – 2012 standen Präsidentschaftswahlen bevor, ebenso wie in diesen Tagen. Doch Stella Zambrano weist solche Vermutungen zurück: »Auch 2013 gab es Wahlen. Die waren ganz wichtig, weil zum ­ersten Mal Nicolás Maduro kandidierte. Trotzdem wurde der Stein damals nicht thematisiert.« Auch die Frage, ob Venezuela derzeit nicht drängendere Probleme habe, als sich um einen Tausende Euro kostenden Rücktransport zu kümmern, lässt sie nicht gelten: »Wir befinden uns zweifellos in einer Krise, aber die Regierung unternimmt riesige Anstrengungen, um die Bevölkerung trotz der verhängten Finanzblockade und aller Schwierigkeiten mit ausreichend Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen. Dazu gehören aber auch kulturelle Fragen, und dank der Bolivarischen Revolution fühlen sich die Pemones zum ersten Mal ernstgenommen.«

Antonina, die älteste Teilnehmerin der Delegation aus Venezuela, feierte am Sonnabend am Stein ihren 86. Geburtstag, bevor sie gemeinsam mit der ganzen Gruppe in ihre Heimat zurückkehrte. Sie betonte, dass man keinen Streit mit »dem Herrn aus Deutschland« wolle: »Was geschehen ist, ist geschehen, weil er unsere Kultur nicht verstanden hat. Nun wollen wir, dass Kueka zurückkommt, damit wieder Ruhe einkehrt.« Omar Vielma, Chef des Instituts für das kulturelle Erbe in Caracas, geht davon aus, dass dies innerhalb der nächsten drei Monate der Fall sein könnte.

Erschienen am 15. Mai 2018 in der Tageszeitung junge Welt