Kriegsgefahr am Táchira

Als eine »Vorkriegssituation« beschreibt der frühere kolumbianische Präsident Ernesto Samper die gegenwärtige Lage an der Grenze zwischen seinem Land und dem Nachbarn Venezuela. Die Errichtung von sieben US-Militärstützpunkten in Kolumbien, von denen sich Venezuela bedroht sieht, sowie das Fehlen regelmäßiger Kontakte zwischen den Regierungen in Bogotá und Caracas belaste die Beziehungen zwischen den beiden südamerikanischen Staaten, warnte der Politiker, der Kolumbien zwischen 1994 und 1998 regiert hatte. »Die Lage kann sich weiter verschärfen, und es kann zum Äußersten kommen«, unterstrich er.

Gerade in der Grenzregion zwischen dem venezolanischen Bundesstaat Táchira und dem kolumbianischen Department Norte de Santander kommt es seit Tagen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen paramilitärischen Gruppen und den Sicherheitskräften Venezuelas. So kamen bei einem Überfall am vergangenen Montag zwei Angehörige der venezolanischen Nationalgarde ums Leben. Die bei dem Angriff gestohlenen Maschinenpistolen der beiden Soldaten konnten von den Streitkräften drei Tage später sichergestellt werden, als bei einer Operation gegen die Terroristen ein Paramilitär getötet und fünf weitere verhaftet wurden. Bereits in der vergangenen Woche waren zehn Männer ermordet aufgefunden worden, die offenbar einer paramilitärischen Gruppe angehört und von einer verfeindeten Organisation zuerst entführt und dann hingerichtet worden waren.

Nach den Zwischenfällen hatte Venezuelas Präsident Hugo Chávez eine stärkere Militärpräsenz an der Grenze zu Kolumbien angeordnet. Zugleich machte er den in Opposition zur Zentralregierung stehenden Gouverneur von Táchira, César Pérez, für die entstandene Lage mitverantwortlich. Sein Handeln belege, daß er sich den Paramilitärs verpflichtet fühle. »Herr Gouverneur, denken Sie an die Konsequenzen. Wir werden nicht zulassen, daß Sie die Region weiter destabilisieren«, warnte Chávez den Politiker der christdemokratischen Partei COPEI. Die Polizei von Táchira sehe der wachsenden Kriminalität »mit verschränkten Armen« zu und erleichtere so das Eindringen der paramilitärischen Banden aus dem Nachbarland. Nachdem am Wochenanfang einige Grenzübergänge vorübergehend geschlossen worden waren, drohte Chávez damit, im Grenzgebiet den Notstand auszurufen und die Übergänge komplett zu sperren.

Venezuelas Außenminister Nicolás Maduro richtete seine Kritik im Gespräch mit der staatlichen Presseagentur ABN direkt an die Regierungen Kolumbiens und der USA, von denen die Paramilitärs genutzt würden, um die Lage an der Grenze zu verschärfen: »Ihr Plan beinhaltet, Venezuela durch Gewalt, Morde und die Zunahme der Kriminalität an der Grenze und in den wichtigsten Städten des Landes zu destabilisieren«.

Durch das ländlich geprägte Táchira und über den gleichnamigen Grenzfluß verlaufen zwei der wichtigsten Handelsrouten der Andenregion. Paramilitärs, Drogenhändler und Schmugglerbanden treiben hier bereits seit Jahren ihr Unwesen und versuchen, in den Gebieten, in denen sie aktiv sind, die Kontrolle zu übernehmen und die staatlichen Behörden zu verdrängen. Als Präsident Chávez im Juli als Reaktion auf die Errichtung der US-Militärbasen in Kolumbien angeordnet hatte, den Handel mit dem Nachbarland einzuschränken, riefen paramilitärische Gruppen die Händler in den venezolanischen Grenzstädten Ureña und San Antonio auf, gegen diese Entscheidung zu protestieren.

In den vergangenen Wochen wurden außerdem mehrfach Spione des kolumbianischen Geheimdienstes DAS auf venezolanischem Staatsgebiet festgenommen. Gegenüber der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo bestätigten Sprecher des Geheimdienstes, daß zumindest einige der Verhafteten Agenten seien. Man sei »sehr besorgt« über die Lage der in Venezuela inhaftierten Spione, sagte DAS-Sprecher Felipe Muñoz dem Blatt, das der Regierung in Bogotá nahesteht.

Erschienen am 7. November 2009 in der Tageszeitung junge Welt