Kontroverse Kontrollen

In Venezuela hat sich die Lage in den Geschäften und Supermärkten entspannt, die Regale sind wieder gefüllt, und die langen Schlangen vor den Geschäften sind verschwunden. Dazu beigetragen haben die »Lokalkomitees für Versorgung und Produktion« (CLAP). Diese Basisgruppen haben es im Auftrag der Regierung übernommen, den Vertrieb von Waren des Grundbedarfs zu staatlich festgelegten Preisen zu organisieren, die weit unter dem liegen, was in den Geschäften oder auf dem Schwarzmarkt verlangt wird. Ein- oder mehrmals monatlich können sich die Menschen bei ihnen eines dieser günstigen Pakete pro Person abholen. Nach offiziellen Angaben erhielten im Juli zehn Millionen Menschen in Venezuela solche subventionierten Lebensmittel, unter anderem Maismehl, Zucker oder Milchpulver.

Doch wenn die CLAP-Pakete nicht ankommen, oder wenn es um Produkte geht, die nicht zur überschaubaren Palette des Angebots gehören, ist die Lage weiter schwierig. Schon am 1. Mai musste Venezuelas Präsident Nicolás Maduro bei der Großkundgebung nach lautstarken Forderungen der Teilnehmer versprechen, die Preise einzufrieren – passiert ist das bisher nicht. Vielmehr steigen die Lebenshaltungskosten weiter, obwohl in dem südamerikanischen Land für viele Produkte eine Preiskontrolle gilt. Doch die Dauerkrise hat Angebot und Nachfrage völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, so dass Festpreise nur durch Maßnahmen wie die CLAP-Pakete mit großem organisatorischen und politischen Aufwand durchzusetzen sind.

Es ist zwar verboten, aber viele Händler orientieren sich bei der Berechnung ihrer Preise an den Schwarzmarktkursen, die auf ausländischen Internetseiten wie »Dolar Today« täglich aktualisiert werden. Dort wurde der Euro am Donnerstag mit mehr als 18.000 Bolívares bewertet. Nach dem offiziellen Kurs würde man nur elf Bolívares für einen Euro erhalten. Doch mit diesem Wert rechnet niemand – denn er gilt nur für bestimmte Transaktionen, etwa für den Import von Medikamenten oder als Kurs für venezolanische Studenten im Ausland, damit diese an Devisen kommen. Für alle anderen gibt es einen weiteren Wechselkurs namens Dicom. Nach diesem gab es am Donnerstag knapp 3.500 Bolívares für einen Euro. Doch es gibt Einschränkungen: Natürliche Personen dürfen pro Quartal maximal 500 Dollar wechseln.

Der Mindestlohn in Venezuela liegt nach der letzten Erhöhung im Juli inzwischen bei 250.000 Bolívares, was nach dem Dicom-System etwa 72 Euro entspricht. Wie das wirtschaftspolitische Internetportal »15 y Último« berichtete, verlangen die Händler jedoch rund 11.000 Bolívares für ein Kilogramm Maismehl – obwohl es staatlich festgelegt nur 860 Bolívares kosten dürfte. Doch selbst in diesen offiziellen »gerechten Preisen« spiegelt sich die Inflation wider: Vor anderthalb Jahren sollten für das Kilo Maismehl noch 19 Bolívares berechnet werden.

Anfang August kündigte Maduro eine »harte Schlacht gegen die Spekulanten« an, die ihre Preise nach Internetseiten wie »Dolar Today« bilden. »Sie kaufen Produkte in Venezuela, produzieren in Venezuela, aber wollen zum Preis des kriminellen Dollar verkaufen«, kritisierte der Staatschef. Wer die Preise willkürlich erhöhe, müsse ins Gefängnis gesteckt werden. Er kündigte an, der verfassunggebenden Versammlung einen Gesetzentwurf vorzulegen, um die Spekulation zu bekämpfen und »mit eiserner Hand die Regulierung durchzusetzen«.

Doch Widerspruch kommt aus vermutlich unerwarteter Richtung. In der Constituyente werden die Preis- und Währungskontrollen inzwischen grundsätzlich in Frage gestellt. Oscar Schemel, der Chef des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces und als Vertreter der Unternehmer in die verfassunggebende Versammlung gewählt, forderte am 9. August eine Überprüfung der bisherigen Politik: »Die Kontrollen haben wenig gebracht, denn offensichtlich kontrollieren sie nichts. Die Wechselkurskontrolle hat nicht dazu gedient, den Preis des Dollars zu kontrollieren, die Preiskontrolle konnte die Inflation nicht kontrollieren.« Die exzessiven Vorschriften hätten nur Korruption, Ineffizienz und einen Niedergang der Produktivität verursacht. »Man kann nicht gegen die ökonomischen und Marktgesetze regieren«, warnte er. Weder für noch gegen das Kapital, sondern mit dem Kapital müsse die Wirtschaft entwickelt werden.

Aristóbulo Istúriz, einer der bekanntesten Vertreter des Chavismus, erinnerte in seiner Antwort daran, dass die Situation in Venezuela auch auf einen von außen geführten Wirtschaftskrieg zurückgehe. Deshalb sei die Währungskontrolle eher eine politische als eine ökonomische Maßnahme, durch die verhindert werden solle, dass die Reichsten massenhaft ausländische Währung aufkaufen. Er erinnerte daran, dass die Kontrollen 2003 als Reaktion auf die Devisenflucht eingeführt worden seien.

Der Entwicklungssoziologe Luis Salas warnte in »15 y Último« vor dem Irrglauben, dass ein Verzicht auf die Kontrollen alle Probleme lösen werde. Er verwies auf die Lage in Argentinien, wo sich die Inflation nach der Abschaffung ähnlicher Maßnahmen verdoppelt habe – mit dramatischen Folgen für die Arbeiter, die sich für ihre Gehälter kaum noch etwas kaufen können.

Einig sind sich alle Seiten jedoch darin, dass die Inflation schnell gestoppt oder zumindest gebremst werden muss. Ausreden kann es keine mehr geben – die Constituyente hat umfassende Macht und kann ihren Willen gegen alle anderen Instanzen des Staates durchsetzen. Tut sie dies nicht oder bleiben ihre Maßnahmen wirkungslos, wird das auf Maduro und die Regierung zurückfallen.

Erschienen am 19. August 2017 in der Tageszeitung junge Welt