Keine weniger!

Mehrere hunderttausend Menschen sind am Samstag in Lima auf die Straße gegangen, um gegen die hohe Zahl von Morden an Frauen zu protestieren. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2016 wurden nach Angaben des peruanischen Frauenministeriums 54 Morde und 188 Mordversuche an Frauen registriert. Die Gesamtzahl von Fällen häuslicher Gewalt lag demnach bei mehr als 32.000 Fällen. Unter dem Motto »Ni una menos« (Keine einzige weniger) hatten deshalb Frauengruppen, Gewerkschaften, Parteien und viele andere zu der Aktion aufgerufen.

Ab 15 Uhr Ortszeit ging in der peruanischen Hauptstadt nichts mehr: Die Menge der Protestierenden füllte 30 Straßenzüge, die Tageszeitung Perú 21 sprach von einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Stadt. In den Tagen zuvor hatte der Aufruf zum Protest immer mehr Unterstützer gefunden. Nahezu alle Medien mobilisierten für den Marsch, was die linksliberale Tageszeitung La República mit dem Hinweis kommentierte, dass viele dieser Sender bislang die alltägliche Gewalt ignoriert oder verharmlost hätten. Schließlich beteiligten sich auch der neue Staatschef Pedro Pablo Kuczynski sowie Abgeordnete aller Parlamentsfraktionen an der Großdemonstration. Trotzdem beließen die Protestierenden es nicht bei moralischen Appellen. Bewusst war als Ziel der Demonstration der Justizpalast ausgewählt worden. Damit sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass die peruanische Justiz Vergewaltiger und Frauenmörder mit Samthandschuhen anfasst und wenig Einsatz bei der Verfolgung der Täter an den Tag legt. Einer der häufig gerufenen Slogans war deshalb »Judikative – nationale Schande«. Viele erinnerten auf Transparenten auch an die unter der Diktatur von Alberto ­Fujimori an Tausenden Frauen vollzogenen Zwangssterilisierungen. Die peruanische Justiz hat die Ermittlungen dazu vor einigen Wochen eingestellt.

Bereits eine Stunde vor dem offizi ellen Beginn der Großdemonstrati on hatten sich Mitglieder der CGTP, des größten Gewerkschaftsbundes Perus, vor ihrem Sitz an der Plaza 2 de Mayo versammelt, um gemeinsam zum Campo del Marte zu ziehen, wo der Auftakt stattfinden sollte. Die Vorsitzende der CGTP, Carmela Sifuentes, betonte gegenüber junge Welt die Bedeutung der Großdemonstration für die Gewerkschaftsbewegung. Gewalt gegen Frauen gebe es nicht nur in der Familie, sondern sei auch in der Arbeitswelt Alltag. Frauen seien besonders von Diskriminierung, Übergriffen und willkürlichen Entlassungen betroffen. Deshalb habe man die Mobilisierung von Anfang an unterstützt, um den Opfern Mut zu machen, gegen ihre Peiniger aufzustehen. Sie schilderte die Erfahrungen von mehreren Kolleginnen, die mit ihr zusammen das Leittransparent des Gewerkschaftsblocks trugen. So sei eine der Mitstreiterinnen von ihrem Ehemann vergewaltigt worden. Die Justiz bestrafe den Täter jedoch nicht, weil dessen Vater Stadtrat sei. Eine andere Kollegin sei entlassen worden, weil sie sich als Gewerkschafterin für die Gleichbehandlung von Frauen und Männern in ihrem Betrieb eingesetzt habe.

Der riesige Zug vereinte schließlich Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sonst wohl kaum gemeinsam demonstrieren würden. Vertreten war eine anarchistische Gruppe mit ihrem Transparent »Liebe braucht keine Gesetze« ebenso wie eine Vereinigung von Polizistinnen, die mit ihrer Teilnahme darauf hinwiesen, dass auch sie Opfer von Gewalt werden. Eine Sprecherin berichtete, dass vor allem Autofahrer aggressiv reagierten, wenn Verkehrspolizistinnen ihre Fahrweise ahnden.

Viele Plakate richteten sich gegen Kardinal Juan Luis Cipriani, der nur zwei Wochen vor der Großdemonstration erklärt hatte, viele Frauen würden Vergewaltigungen »provozieren«. Das löste wütende Proteste von Frauenverbänden und Abgeordneten aller Parteien aus. Obwohl der Kirchenmann später behauptete, er sei »missverstanden« worden, protestierten auch Gläubige gegen ihren Hirten. »Ich bin katholisch, aber Cipriani vertritt mich nicht«, hieß es auf Plakaten.

Gewerkschafterin Sifuentes hofft nach diesem großen Tag, dass er dazu beigetragen hat, den Frauen ihre Kraft bewusst zu machen, damit sie sich stärker gegen ihre Unterdrückung wehren. »Eine Demonstration allein ist nie genug«, unterstrich sie.

Erschienen am 15. August 2016 in der Tageszeitung junge Welt