Keine Ruhe für Piñera

In Chile gerät Staatschef Sebastián Piñera trotz einer Kabinettsumbildung und der Ankündigung sozialer Maßnahmen immer weiter unter Druck. Am Montag abend (Ortszeit) demonstrierten erneut Tausende Menschen im Zentrum der Hauptstadt Santiago. Schwerbewaffnete Einsatzkräfte verhinderten mit Tränengas und Stahlgeschossen, dass sich der Zug dem Präsidentenpalast La Moneda nähern konnte. Mehrere Geschäfte und eine U-Bahn-Station gingen in Flammen auf. Auch für den gestrigen Abend mobilisierten Oppositionsgruppen zu einer weiteren Großdemonstration und zur gewaltfreien Belagerung des Regierungssitzes.

Die Proteste hatten sich Mitte Oktober zunächst an einer Erhöhung der Fahrpreise bei der U-Bahn von Santiago entzündet, sich dann aber schnell auf das ganze Land ausgebreitet. Zum ersten Mal nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 setzte die Regierung Soldaten gegen die Demonstranten ein. Doch auch die Verhängung des Ausnahmezustandes und nächtliche Ausgangssperren konnten die Proteste nicht stoppen.

Am Dienstag legten die Bergleute der Escondida-Mine im Norden Chiles, die als größte Kupferförderanlage der Welt gilt, für 24 Stunden die Arbeit nieder. Wie die Gewerkschaft des Bergwerkes mitteilte, wollten die Kumpel damit gegen Rechtsverletzungen des Unternehmens und gegen die Unterdrückung des chilenischen Volkes protestieren. Die Mitglieder der »Gewerkschaft Nr. 1 der Arbeiter der Escondida-Mine« seien »Teil des Volkes, das genug hat und Veränderungen verlangt«.

Der chilenische Gewerkschaftsbund CUT und zahlreiche weitere im Bündnis »Soziale Einheit« zusammengeschlossene Organisationen haben für den heutigen Mittwoch zu einem weiteren landesweiten Generalstreik aufgerufen. Schon in der vergangenen Woche hatten Millionen Beschäftigte für 48 Stunden die Arbeit niedergelegt. Es gehe nicht um »mehr oder weniger Minister, alte oder neue Gesichter«, heißt es im Streikaufruf. Die CUT-Vorsitzende Bárbara Figueroa forderte im Gespräch mit der linken Zeitschrift El Siglo die Oppositionsparteien auf, mit ihrer Mehrheit im Parlament alle Gesetzesvorhaben der Regierung zu blockieren.

Piñera, der nach Umfragen nur noch von 14 Prozent der Chilenen unterstützt wird, hatte am Montag acht neue Minister vereidigt. Abgelöst wurde unter anderem der bisherige Innenminister Andrés Chadwick, der für die brutale Unterdrückung der Proteste der vergangenen Tage verantwortlich gemacht wird. Chadwick, ein Cousin des Präsidenten und schon unter der Pinochet-Diktatur in wichtigen Regierungsämtern tätig, gab sich anschließend reumütig: »Wenn ich nicht alles richtig gemacht haben sollte, bitte ich um Entschuldigung.« Zum Nachfolger ernannte Piñera den bisherigen Generalsekretär des Präsidialamtes, Gonzalo Blumel Mac-Iver, der als enger Gefolgsmann des Staatschefs und Mitverfasser von dessen Regierungsprogramm gilt.

Die Protestbewegung fordert jedoch längst den Abtritt des Präsidenten selbst. Die Abgeordneten mehrerer Oppositionsfraktionen kündigten an, Verfassungsbeschwerde gegen Piñera einzubringen. Deren Annahme würde die Absetzung des Staatschefs bedeuten. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chiles, Guillermo Teillier, begründet die Klage mit den schweren Menschenrechtsverletzungen unter dem vom Präsidenten verhängten Ausnahmezustand: »Es gibt Tote, Fälle von Folter, Verletzte, in Mitleidenschaft gezogene Kinder!«

Erschienen am 30. Oktober 2019 in der Tageszeitung junge Welt