Kein Freibrief für Santos

Die Anebre, eine Gewerkschaft von Angestellten der Banco de la República in Kolumbien, hat ihren Sitz in Bogotá im zwölften Stock eines Hochhauses. Um dieses betreten zu können, muss man zunächst eine strenge Sicherheitskontrolle passieren: Ohne Ausweis geht gar nichts, wenn der Portier einen nicht als regelmäßigen Nutzer kennt. Große Schilder weisen darauf hin, dass alle Pakete und Taschen am Eingang kontrolliert werden. Die Maßnahmen sind verständlich, denn Kolumbien gehört zu den für Gewerkschafter gefährlichsten Ländern der Welt. In den vergangenen Jahrzehnten fielen Tausende organisierte Arbeiter Anschlägen zum Opfer, Funktionäre müssen sich noch heute auf den Schutz von Leibwächtern verlassen.

»In Kolumbien war es lange einfacher, eine bewaffnete Organisation außerhalb des Gesetzes zu gründen als eine Gewerkschaft«, berichtete am Dienstag Leonor Sierra, die in Kolumbien den Dachverband von internationale Dienstleistungsgewerkschaften (UNI Global Union) vertritt. Arbeiter, die sich organisierten und für ihre Rechte eintreten, wurden beschuldigt, Terroristen oder Guerilleros zu sein. Ein solcher Vorwurf konnte lebensgefährlich sein, denn paramilitärischen Banden oder auch Kriminellen galten selbstbewusste Arbeiter als Gefahr, die man ausschalten musste. »Deshalb war die internationale Solidarität für uns überlebenswichtig«, erklärte Sierra.

Anlass für den Vortrag der Gewerkschafterin im Versammlungssaal der Anebre war ein Besuch von Mitgliedern von ver.di und der GEW in der kolumbianischen Metropole. »Internationale Solidarität der Arbeiterklasse bedeutet, dass wir uns gegenseitig über unsere Erfahrungen austauschen«, begründete der Münchener ver.di-Vorsitzende Harald Pürzel im Gespräch mit junge Welt die Reise. »Vieles von dem, was uns die kolumbianischen Kollegen berichtet haben, ist auch bei uns inzwischen bekannt, etwa die Versuche, Gewerkschafter aus den Betrieben zu verdrängen.« Allerdings, so Pürzel, ist gewerkschaftliches Engagement in der Bundesrepublik nicht lebensgefährlich. Anders in Kolumbien: Allein in den Jahren 2011 bis 2014 wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen fast 2.000 Angriffe auf Gewerkschafter verübt, mehr als 100 von ihnen wurden ermordet.

Trotz des Terrors ist es der Gewerkschaftsbewegung in dem südamerikanischen Land in den vergangenen Jahren gelungen, Organisationen in Branchen zu gründen, in denen es noch keine Arbeitervertretungen gab. Damit wächst die Bedeutung dieser Vereinigungen in einem Land, in dem weniger als vier Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind. Besonders kompliziert sei der Aufbau von Gewerkschaften im Bereich der Sicherheitsdienste gewesen, so Sierra. Die Unternehmen seien von paramilitärischen Strukturen kontrolliert worden, weil viele der Chefs aus dem Militär oder den ultrarechten Todesschwadronen stammten. »Trotzdem gibt es auch dort jetzt eine Gewerkschaft«, freute sich die Funktionärin.

Der wachsende Einfluss der Arbeiterorganisationen sei gerade in dem »historischen Augenblick« wichtig, den Kolumbien derzeit erlebt, unterstrich Sierra: Die Regierung von Staatschef Juan Manuel Santos und die FARC-Guerilla stehen kurz vor der Unterzeichnung eines Friedensvertrages, der anschließend durch einen Volksentscheid bestätigt werden soll. Sofía Espinosa, die Vorsitzende der Nationalen Gewerkschaft der Bankangestellten (UNEB), gab das Ziel aus, mindestens zehn Millionen Kolumbianer beim Referendum zu einem Ja zum Frieden zu bewegen.

Formell nötig wären nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 4,5 Millionen Stimmen. Zugleich machte Espinosa klar, dass die Unterstützung des Friedensprozesses durch ihre Gewerkschaft kein Freibrief für die Regierung ist. Präsident Santos gehöre ebenso wie seine Widersacher, die ein Ende des Krieges ablehnen, einer der reichen Familien der kolumbianischen Oligarchie an, seine Politik diene nicht den Arbeitern. »Von Santos eine Politik zugunsten der Beschäftigten zu fordern ist dasselbe, wie von einem Olivenbaum zu verlangen, er solle Birnen tragen«, formulierte es die Gewerkschaftsvorsitzende.

Viele der Großbanken in Kolum­bien unterstützen den Friedensprozess, weil sie sich davon ein gutes Geschäft versprechen: Von internationalen Organisationen wie der EU, der UNO, der Weltbank und anderen wurden rund 60 Milliarden US-Dollar zugesagt, um das Ende des Krieges finanziell abzusichern. Diese Mittel werden wohl über die Konten der privaten Banken fließen. Außerdem rechnen die Finanzinstitute bereits mit Tausenden neuen Kunden – den ehemaligen Guerilleros, die in das zivile Leben zurückkehren sollen. Die UNEB möchte dagegen Kooperativen auch im Finanzsektor entwickeln, um eine solidarische Ökonomie zu entwickeln. Gegenüber junge Welt zeigte sich Espinosa jedoch skeptisch, dass dies unter Santos zu erreichen ist: »Er steht eher auf der Seite der traditionellen Banken.«

Nicht alle Gewerkschafter in Kolumbien sind jedoch über den bevorstehenden Friedensschluss begeistert. »Die Arbeiter werden ohne die Guerilla weniger geschützt sein«, fasste einer seine Sorge zusammen. Die Regierung werde unmittelbar nach Inkrafttreten des Vertrags eine Reihe von neoliberalen Maßnahmen zu Lasten der Arbeiter umsetzen. Zugleich werde die Militarisierung der Gesellschaft sicher nicht eingeschränkt werden. Sogar im aktuellen Haushaltsplan seien die Ausgaben für Militär und Polizei um zehn Prozent erhöht worden, obwohl der Waffenstillstand bereits in greifbarer Nähe war.

Nicht von der Hand zu weisen ist nach Ansicht nahezu aller Gewerkschafter zudem die Gefahr, dass sich Verbrechen wie in den 1980er Jahren wiederholen. Damals war nach einem Friedensvertrag zwischen der Regierung und den FARC die legale Linkspartei Unión Patriótica gegründet worden. Gegen diese entfesselten ultrarechte Paramilitärs und Drogenkartelle sowie Teile des Militärs einen Vernichtungskrieg, dem innerhalb weniger Jahre rund 5.000 Mitglieder zum Opfer fielen. Die UP wurde physisch ausgerottet.

Diese Gefahr drohe auch den Guerilleros der FARC und anderer bewaffneter Organisationen, räumte Espinosa ein. Um das zu verhindern, müsse sich die internationale Gewerkschaftsbewegung für Kolumbien engagieren und die Arbeiterorganisationen unterstützen: »Wir werden nicht schweigen.«

Erschienen am 6. August 2016 in der Tageszeitung junge Welt