Katastrophen im Wahlkampf

Eine Reihe von Unglücken hat in den vergangenen Tagen in Venezuela den Parlamentswahlkampf überschattet. Am Montag stürzte im Bundesstaat Bolívar eine Maschine der staatlichen Fluggesellschaft Conviasa ab, 16 Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen dabei ums Leben. Bereits am vergangenen Sonnabend waren drei kleine Passagierboote, die Touristen von der Urlaubsinsel Margarita zu vorgelagerten Atollen bringen sollten, vom Kurs abgekommen und erst nach Tagen auf hoher See entdeckt worden. Während die Passagiere dieser Boote gerettet werden konnten, stürzte während der Suche ein Armeehubschrauber ab, wobei zwei Besatzungsmitglieder starben. Ebenfalls am Wochenende starb der Gouverneur des Bundesstaates Guárico, Willian Lara, bei einem Verkehrsunfall. Lara war international bekannt geworden, als er in seiner damaligen Funktion als Parlamentspräsident am 11. April 2002 öffentlich den Putsch gegen Präsident Hugo Chávez anprangerte. Am Sonnabend meldete die regierungsnahe Tageszeitung Vea außerdem den Tod ihres Gründers und Chefs Guillermo García Ponce, der einem Krebsleiden erlegen war.

Zumindest offiziell verzichteten sowohl die Opposition als auch das Regierungslager bislang darauf, die Unglücke zum Wahlkampfthema zu machen. Der Journalist und frühere venezolanische Vizepräsident José Vicente Rangel kritisierte am Montag während der Trauerfeier für García Ponce jedoch, daß zahlreiche Anhänger der Opposition über Onlinemedien wie Twitter den Tod der Politiker gefeiert hätten. Diese »schwarze Kotze« lasse erahnen, was dem Land bevorstehen könnte, wenn die Opposition die Parlamentswahl am 26. September gewinnen würde, so Rangel. »Aber sie sind zum Scheitern verurteilt, denn in diesem Land setzt sich nicht der Tod durch, sondern das Leben. Hier setzt sich nicht die Diktatur durch, sondern die Demokratie, denn in diesem Land wird nicht der Kapitalismus aufgebaut werden, sondern der Sozialismus.«

Demgegenüber zeigte sich der Gouverneur des Bundesstaates Carabobo, Henrique Salas Feo, von einem Sieg der Regierungsgegner überzeugt. Der Aktivist der von seinem Vater gegründeten Oppositionspartei »Proyecto Venezuela« prognostizierte am Dienstag in der Tageszeitung El Universal, daß »acht von zehn Venezolanern« bei den Parlamentswahlen am 26. September für die Opposition stimmen würden. Näher an der Realität dürfte dagegen das regierungsnahe Meinungsforschungsinstitut GIS XXI liegen. Das veröffentlichte am Dienstag eine Umfrage, wonach die Allianz aus der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und der Kommunistischen Partei (PCV) mit 52,6 Prozent der Stimmen rechnen kann, was aufgrund der Besonderheiten des venezolanischen Wahlsystems für bis zu 130 der 165 Sitze in der Nationalversammlung reichen würde. Dieser Umfrage zufolge dürfte sich das Chávez-Lager in 19 Bundesstaaten und in der Hauptstadt Caracas durchsetzen, während die Opposition in den vier von ihr regierten Staaten Erfolge feiern könnte. Die zu erwartende Wahlbeteiligung sieht GIS XXI bei fast 70 Prozent, was einen Rekordwert darstellen würde. An der letzten Wahl 2005 hatten – auch aufgrund eines Boykotts durch die Opposition – nur gut 25 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen. Auch das Institut Hinterlaces erwartet eine hohe Beteiligung, doch im Unterschied zu GIS XXI sieht die den Regierungsgegnern verbundene Einrichtung die Opposition derzeit mit 41 Prozent der Stimmen vorne, gegenüber 37 Prozent für das Chávez-Lager. 17 Prozent der Befragten sind der in der vergangenen Woche veröffentlichten Studie zufolge noch unentschieden.

Erschienen am 16. September 2010 in der Tageszeitung junge Welt