Kampf um Cumaná

Cumaná ist eine Perle. Die in weiten Teilen noch vom Kolonialstil geprägte Stadt im Nordosten Venezuelas reicht direkt bis an den Karibikstrand. Abends eröffnet sich unter Palmen ein traumhafter Blick auf den Sonnenuntergang. Tagsüber kann es brütend heiß werden, da hilft ein Ausflug an einen der vielen Badestrände. Oder man besichtigt das über der Stadt thronende Castillo de San Antonio mit seinen dicken, kühlen Mauern. Diese im 17. Jahrhundert errichtete Burg mit ihren auf das offene Meer gerichteten Kanonen diente der Stadt einst zur Abwehr von Piratenangriffen. Heute ist sie denkmalgeschützt und eine Sehenswürdigkeit für Touristen. Berühmt ist Cumaná auch als die Stadt, in der Alexander von Humboldt 1799 seine Südamerika-Reise begann. In seinem Tagebuch beklagte er sich schon damals über die Bürokratie der Behörden: »Wir waren am 16. Juli mit Tagesanbruch auf dem Ankerplatz gegenüber der Mündung des Rio Manizanes angelangt, konnten uns aber erst spät am Morgen ausschiffen, weil wir den Besuch des Hafenbeamten abwarten mussten.« Ansonsten schien der Aufenthalt jedoch angenehm: »Unsere Blicke hingen an den Gruppen von Kokosbäumen, die das Ufer säumten und deren 20 Meter hohe Stämme die Landschaft beherrschten. Die gefiederten Blätter der Palmen hoben sich von einem Himmelsblau ab, das keine Spur von Dunst trübte«, schrieb von Humboldt.

Die Nachrichten, die in der vergangenen Woche aus der heute mehr als eine halbe Million Einwohner zählenden Hauptstadt des Bundesstaates Sucre kamen, klangen weit weniger romantisch. Über mehrere Tage hinweg wurden Geschäfte geplündert, die Sicherheitskräfte waren überfordert. Erst Einheiten der Nationalgarde, die in die Stadt beordert wurden, konnten die Lage beruhigen.

Seit Beginn der vergangenen Woche war es in der Stadt zu Protesten von Oppositionellen gekommen, die Straßen blockierten und Barrikaden aus brennenden Autoreifen errichteten. Die Lage eskalierte am Dienstag, als sich offenkundig Kriminelle unter die oppositionellen Demonstranten mischten, die begannen, Supermärkte und andere Geschäfte zu stürmen. Der Soziologe Jesús Subero, der in Sucre eine von Akademikern betriebene, regierungskritische Beobachtungsstelle über Gewalt in Venezuela leitet, hält die Plünderungen nicht für spontan, sondern für eine geplante Aktion: »Es waren Gruppen von Motorradfahrern beteiligt, die die Unentschlossenheit der Polizeikräfte ausgenutzt haben. Ab Mittag begannen brutale Angriffe auf einzelne Geschäfte, die – obwohl sie geschlossen waren – aufgebrochen und geplündert wurden.« Hunger sei nicht das Motiv gewesen, denn es seien auch Metallwarengeschäfte, Optiker, Apotheken und Spirituosenläden attackiert worden. Regierungssprecher machten Politiker der Rechtsparteien »Demokratische Aktion« (AD) und »Zuerst Gerechtigkeit« (PJ) für die Eskalation der Gewalt verantwortlich. 200 Motorradfahrer seien von Funktionären dieser Organisationen angeheuert, weitere Plünderer mit Lastwagen in die Stadt gebracht worden.

Am Wochenende wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft ein Offizier der Polizei von Cumaná inhaftiert. Er soll während der Plünderungen einen Ladenbesitzer erschossen haben, der kontrollieren wollte, ob auch sein Geschäft aufgebrochen worden war. Als er sich auf einem Motorrad dem Ort der Geschehnisse näherte, traf ihn die Kugel des Polizisten. Der Beamte wurde wegen Mordes und unbefugten Gebrauchs seiner Waffe angeklagt.

»Sie haben den Punkt überschritten, bis zu dem eine Umkehr noch möglich gewesen wäre«, warf der Vizechef der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), Diosdado Cabello, den Regierungsgegnern am Freitag bei einer Kundgebung in Cumaná vor. Auf der Avenida Panamericana hatten sich Tausende Einwohner der Stadt versammelt, um gegen die Ausschreitungen zu protestieren. Cabello, der auf der Bühne unter anderem vom Gouverneur des Bundesstaates Sucre, Luis Acuña, und von Cumanás Bürgermeister David Velásquez begleitet wurde, warnte die Regierungsgegner, dass die Revolutionäre einem Sturz von Staatschef Nicolás Maduro nicht tatenlos zusehen würden. »Meine Herren der Rechten, Sie wählen die Musik aus, zu der wir tanzen. Wenn Sie sagen, dass wir es über Wahlen austragen, machen wir es mit Wahlen. Wenn Sie sagen, dass wir es auf der Straße machen, sehen wir uns auf der Straße, und wenn Sie auf den wahnsinnigen Einfall kommen, ein Gewehr zu erheben, sehen wir uns mit den Gewehren auf dem Rücken, um die Bolivarische Revolution zu verteidigen!«

Seit Monaten stöhnt Venezuela unter Warenmangel. Vor allem Grundnahrungsmittel wie Mehl, Reis, Kaffee und Zucker, deren Preise staatlich reguliert sind, kann man in den Geschäften kaum noch finden. Sie werden auf dem Schwarzmarkt für das Vielfache des festgelegten Preises verkauft. Die Behörden sind mit dem Phänomen des »Bachaqueo«, wie die Schiebereien in Venezuela genannt werden, überfordert. Während sich die wohlhabenden Schichten mit dem Problem arrangieren, können gerade Ärmere die Wucherpreise der Schwarzhändler nicht bezahlen. Die Regierung hat deshalb »Lokale Komitees für Versorgung und Produktion« (CLAP) gegründet, die Lebensmittelpakete an die Familien verteilen und so dem »Bachaqueo« die Grundlage entziehen sollen. Die Opposition dagegen spürt durch die Situation Rückenwind und will Präsident Maduro durch ein Amtsenthebungsreferendum stürzen.

Erschienen am 20. Juni 2016 in der Tageszeitung junge Welt