junge Welt, 28. Juli 2017

Kampf um Caracas

Die Uhr tickt: Am Sonntag sollen die Menschen in Venezuela die Mitglieder einer verfassunggebenden Versammlung wählen. 6.120 Kandidaten bewerben sich um die 537 Sitze der Constituyente. Ziel dieser von Präsident Nicolás Maduro am 1. Mai initiierten Versammlung ist es, die 1999 verabschiedete Verfassung den aktuellen Bedingungen anzupassen und zum Beispiel die in den vergangenen Jahren erreichten sozialen Errungenschaften festzuschreiben.

Unter den Kandidaten befinden sich aufgrund eines Boykotts nur wenige Regierungsgegner. »Es gibt Kandidaten der Opposition«, betonte die frühere Außenministerin Delcy Rodríguez, die ihr Amt aufgegeben hat, um selbst kandidieren zu können. Im Gespräch mit dem Fernsehsender Venevisión räumte sie am Mittwoch allerdings ein, dass keine Führungsmitglieder aus dem rechten Lager dabei seien.

Obwohl von internationalen Medien Gerüchte verbreitet wurden, Maduro wolle die Wahl um sechs Wochen verschieben, lief die Mobilisierung auch am Donnerstag auf Hochtouren. Zu einer Großkundgebung auf der Avenida Bolívar im Zentrum von Caracas versammelten sich Zehntausende. Entscheidend für die Chavistas ist eine hohe Beteiligung an der Abstimmung, damit die Legitimität der Constituyente nicht in Frage gestellt werden kann.

Das rechte Lager will die Wahl verhindern. Für Mittwoch und den gestrigen Donnerstag hatte das Oppositionsbündnis MUD (Tisch der demokratischen Einheit) zu einem zweitägigen »Generalstreik« aufgerufen, für den heutigen Freitag ist ein Protestmarsch in das Zentrum der Hauptstadt Caracas vorgesehen. Henrique Capriles Radonski, der zweimal erfolglos für die Opposition als Präsidentschaftskandidat angetreten war, kündigte einen Marsch auf den Präsidentenpalast Miraflores an.

Auf ihrer Homepage verkündete die MUD eine Beteiligung von 92 Prozent an dem Ausstand, was internationale Nachrichtenagenturen wie AFP prompt abschrieben. Die Rede war von »menschenleeren Straßen« und »geschlossenen Geschäften«. Im Gespräch mit junge Welt bezeichnete das eine Augenzeugin in Caracas am Donnerstag als »erstunken und erlogen«. Der Ausstand sei lediglich in den von der Opposition dominierten Mittelschichtsvierteln im Osten der Hauptstadt einigermaßen befolgt worden. Während die großen Einkaufszentren geschlossen blieben, sei selbst dort die Hälfte der kleinen Läden geöffnet gewesen, Busse und U-Bahnen fuhren weitgehend normal. Im Westen von Caracas sei von einem Generalstreik noch weniger zu spüren gewesen. Auch die großen Staatsunternehmen wie der Erdölkonzern PDVSA wurden nicht bestreikt.

Doch das rechte Lager kopiert das Muster, das im April 2002 zum Putsch gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez geführt hatte. Auch damals hatte die Opposition zu einem »Generalstreik« und zu einem Marsch auf Miraflores aufgerufen. Heckenschützen eröffneten aus Hochhäusern das Feuer auf die Demonstration – das Blutbad diente als Vorwand für den Staatsstreich. Doch die Reaktion war ein Volksaufstand, und die Mehrheit des Militärs blieb loyal. Nach nur 48 Stunden kehrte der gewählte Präsident in sein Amt zurück.

Erschienen am 28. Juli 2017 in der Tageszeitung junge Welt