Justiz im Visier

Juan Manuel Santos von der Regierungspartei »de la U« will ein »Abkommen zur nationalen Einheit«, sein grüner Konkurrent Antanas Mockus plädiert für »Einheit, die Kraft gibt«. Vor der Stichwahl um die Präsidentschaft Kolumbiens an diesem Sonntag drohten sich die beiden Konkurrenten in Phrasen zu verlieren. Doch nach der Verurteilung eines Armeeoffiziers wegen des »Verschwindenlassens« von Menschen ist die Rolle der Justiz in dem südamerikanischen Land zu einem der bestimmenden Themen der Endphase des Wahlkampfs geworden.

Im November 1985 hatte die linke Guerillaorganisation M-19 den Justizpalast in Bogotá gestürmt und Hunderte Geiseln genommen. Bei der Rückeroberung durch die Armee kamen mehr als 100 Menschen ums Leben, darunter einige der höchsten Richter des Landes und fast alle Guerilleros. 25 Jahre nach den Ereignissen verurteilte nun am Mittwoch vergangener Woche ein Gericht den früheren Oberst Guillermo Plazas Vega zu 30 Jahren Haft. Die Richter sahen es als erwiesen an, daß Plazas Vega die Angestellten der Cafeteria des Justizpalastes nach der blutigen Erstürmung des Gebäudes in ein Militärquartier bringen ließ. Von dort »verschwanden« sie spurlos. Auch von der Guerillakämpferin Irma Franco, die Augenzeugen zuvor noch lebend das Gebäude verlassen sahen, fehlt seither jede Spur. Im Prozeß sagten Zeugen nun aus, die Verschleppten seien brutal gefoltert worden. Plazas Vega selbst habe den Befehl gegeben, die »Hurensöhne« zu hängen.

Das Urteil stieß international auf Zustimmung. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, nannte das Urteil eine »historische Entscheidung« und sprach von einem »wichtigen Schritt gegen die Straflosigkeit«. Alejandra Rodríguez, deren Vater zu den »Verschwundenen« gehört, zeigte sich gegenüber dem lateinamerikanischen Fernsehsender TeleSur ebenfalls erfreut über das Urteil, betonte jedoch: »Wir haben noch einen sehr langen Weg vor uns, denn wir wissen noch immer nicht, wo unsere Familienangehörigen und die anderen Verschwundenen aus dem Justizpalast sind. Außerdem warten wir noch auf die Verurteilung der anderen Militärs und der gesamten Spitze der Streitkräfte sowie des damaligen Präsidenten Belisario Betancourt.«

Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe hingegen attackierte das Urteil scharf. Ein »krimineller Zusammenschluß von Drogenhändlern und Guerilla« habe damals die Richter des Obersten Gerichtshofes ermordet, sagte der scheidende Staatschef. »Keiner von ihnen sitzt heute in Haft, statt dessen wurde ein Mitglied der Streitkräfte verurteilt, der die Demokratie verteidigt hat.« Als Reaktion kündigte sein wahrscheinlicher Amtsnachfolger, der frühere Verteidigungsminister Santos, am Dienstag in einer vom Fernsehen übertragenen Debatte mit seinem Kontrahenten an, künftig die Staatsanwaltschaft der direkten Kontrolle durch die Regierung zu unterstellen. Zwischen den verschiedenen Zweigen der Justiz und der Exekutive müsse »Harmonie« herrschen, forderte Santos. Auch auf ausdrückliche Nachfrage der Fernsehmoderatoren verweigerte er eine Distanzierung von Uribe: »Wenn Sie darauf warten, daß ich Präsident Uribe kritisiere, verschwenden Sie Ihre Zeit.« Mockus seinerseits sagte, der Staatspräsident solle »keine Geschütze auffahren«, sondern das endgültige Urteil abwarten.

Für die kolumbianische Linke ist die Wahl hingegen schon gelaufen. Nachdem der Alternative Demokratische Pol (PDA) in der ersten Runde mit seinem Kandidaten Gustavo Petro 9,13 Prozent der Stimmen und damit einen enttäuschenden vierten Platz belegt hatte, rufen die Linken nun zur Stimmenthaltung auf. Gespräche mit Mockus waren zuvor ohne Ergebnis geblieben. Vor allem in der Außenpolitik gingen die Meinungen offenbar auseinander. Während die Linken bei ihrer Ablehnung der Einrichtung neuer US-Militärbasen in Kolumbien blieben, verteidigte der Grüne diese als »wichtig für den Kampf gegen den Drogenhandel«. Auch die Forderung der Linken nach einem humanitären Gefangenenaustausch zwischen der Regierung und der Guerilla stieß bei Mockus auf taube Ohren.

Erschienen am 18. Juni 2010 in der Tageszeitung junge Welt und am 19. Juni 2010 in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek