Jahresrückblick 2017: Das Steuer herumgerissen

In Venezuela hat Staatschef Nicolás Maduro in den vergangenen Monaten die gefährlichste Phase seiner Amtszeit überstanden und hat nun sogar Chancen, die 2018 anstehenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. In Caracas wird bereits davon ausgegangen, dass die regulär erst zum Jahresende anstehende Abstimmung auf das erste Quartal vorgezogen wird. Dadurch könnte Maduro die derzeitige Schwäche der zersplitterten Opposition ausnutzen.

Nach einer solchen Entwicklung hatte es im Frühjahr nicht ausgesehen. Vielmehr schlitterte die Administration im März in eine institutionelle Krise. Hintergrund war der anhaltende Machtkampf zwischen der von der Opposition kontrollierten Nationalversammlung und dem Obersten Gerichtshof (TSJ). Weil das Parlament die Urteile der Richter ignorierte, erklärten diese alle Beschlüsse der Abgeordneten für ungültig.

Staatskrise

Im März 2017 wandten sich vier Rechtsanwälte im Auftrag eines staatlichen Erdölunternehmens mit einer Bitte um Klärung an den TSJ. Es ging darum, wie mit gesetzlichen Bestimmungen umgegangen werden sollte, die vor dem Abschluss internationaler Abkommen eine Zustimmung des Parlaments verlangen. Die Richter entschieden daraufhin, selbst vorübergehend die Kompetenzen der Legislative zu übernehmen.

Diese Entscheidung löste einen offenen Streit zwischen den Staatsgewalten aus. Die damalige Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz protestierte öffentlich gegen die Entscheidung der Richter. Nach einer Krisensitzung hoben diese schließlich ihr Urteil auf.

Für die Rechtsparteien und ihre Unterstützer in den USA, der EU und den internationalen Medienkonzernen war die Krise das Signal zum Aufstand gegen Maduro. Der »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD), ein Zusammenschluss der meisten Oppositionsparteien, rief zu Großdemonstrationen für die Absetzung der Richter auf. Tatsächlich schafften es die Regierungsgegner zunächst, in Caracas und anderen Städten mehrere hunderttausend Menschen auf die Straße zu bringen. Von diesen ging es vielen nur am Rande um die Auseinandersetzung zwischen Legislative und Judikative. Vielmehr wurden sie durch die anhaltenden Versorgungsschwierigkeiten, Inflation und Kriminalität auf die Straße getrieben.

Praktisch von Anfang an beschränkten sich die Aktionen jedoch nicht auf Demonstrationen und Kundgebungen. Zur Kampagne gehörten auch professionell ausgerüstete Straßenkämpfer, die sich Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften lieferten. Diese übernahmen nach und nach die Kontrolle über die Aktionen. Es kam zu Angriffen auf Krankenhäuser, Behörden, Kindergärten und Einrichtungen der sozialen Missionen. Regierungsanhänger wurden gejagt, zusammengeschlagen und in mehreren Fällen ermordet. Das Ziel war einerseits, das öffentliche Leben in Venezuela zum Erliegen zu bringen. Andererseits sollte über die internationalen Medien der Eindruck erweckt werden, dass es einen allgemeinen Volksaufstand gegen die »Diktatur« Maduros gebe. Die Auseinandersetzungen kosteten nach einer Zählung des vom Kulturministerium betriebenen Rundfunksenders Alba Ciudad mindestens 131 Menschen das Leben.

Maduro spielte gegen die Unruhen seine nach eigener Darstellung letzte Karte aus. Am 1. Mai kündigte er in Caracas die Wahl einer Verfassunggebenden Versammlung an. Während die rechte Opposition sofort Sturm gegen das Projekt lief, reagierten auch Regierungsanhänger zunächst mit Skepsis auf die Ankündigung. Maduro gelang es jedoch, seine Wahlmaschine – die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) – in Gang zu setzen. Innerhalb weniger Wochen konnte die Stimmung gedreht werden. Viele zunächst Schwankende begeisterten sich für die Constityuente, auch weil sie als einziger Ausweg aus der erstarrten Konfrontation zwischen Regierung und Opposition erschien. Mehr als acht Millionen Menschen – 41,5 Prozent aller Wahlberechtigten – nahmen an der Wahl teil.

Was Maduro erhofft hatte, gelang: Mit der erfolgreichen Abstimmung brach die Kampagne der Opposition in sich zusammen. Wie in der Verfassung von 1999 festgelegt, konstituierte sich die Versammlung im August als eine allen anderen Staatsgewalten übergeordnete Macht. Zwar wurde seither keine einzige Zeile eines neuen Grundgesetzes geschrieben, doch die Constituyente hat eine neue Dynamik entfacht. So zog sie die ursprünglich für den 10. Dezember geplanten Gouverneurswahlen auf den 15. Oktober vor.

Das zwang die Opposition zum Eingeständnis ihrer Niederlage: Hatte sie zuvor die Constituyente und den Nationalen Wahlrat (CNE) für illegitim erklärt, beugte sie sich nun deren Entscheidungen. Die meisten Rechtsparteien kandidierten bei den Regionalwahlen, die für die PSUV ein wichtiger Erfolg wurden: Sie konnte 18 Bundesstaaten gewinnen, das rechte Lager nur fünf.

Noch deutlicher fiel der Erfolg für die PSUV bei den am 10. Dezember durchgeführten Kommunalwahlen aus. Auch durch einen Boykott vieler Oppositionsparteien begünstigt, werden nun mehr als 300 der 335 Rathäuser von den Sozialisten kontrolliert.

Brüche auf der Linken

Die Abstimmung legte jedoch auch Brüche im linken Lager offen. So trat in Caracas der frühere Minister Eduardo Samán auf dem Ticket der Kommunisten (PCV) und der Partei Heimatland für alle (PPT) gegen die PSUV-Kandidatin Erika Farías an. Sein Wahlkampf wurde von Schikanen überschattet. So tauchte sein Name auf den Stimmzetteln nicht auf – wer ihn wählen wollte, musste für die Listen von PCV und PPT votieren, obwohl dort andere Kandidaten genannt wurden. Die Wahlbehörde CNE hatte deren fristgemäß eingereichte Mitteilung, ihren Kandidaten zu wechseln, ignoriert.

Noch schärfer wurde die Auseinandersetzung in zwei kleineren Kommunen geführt. In Simón Planas im Bundesstaat Lara gewann der auf der Liste der PPT kandidierende Ángel Prado die Wahl mit 57,45 Prozent der Stimmen. Doch der CNE erklärte den PSUV-Vertreter Jean Ortiz zum Sieger, obwohl dieser nur 34,7 Prozent bekommen hatte. Begründet wurde das damit, dass Prado als Mitglied der Verfassunggebenden Versammlung keine Freigabe für seine Kandidatur erteilt worden war. Den der Constituyente angehörenden Kandidaten der PSUV waren allerdings keine solchen Hindernisse in den Weg gelegt worden. In Libertador im Bundesstaat Monagas versuchte der CNE mit ähnlichen Argumenten, die Amtsübernahme des mit 62,6 Prozent gewählten Kommunisten Regulo Reina zu verhindern.

Die Auseinandersetzungen sind ein Symptom für die zunehmende Entfremdung zwischen der PSUV und ihren linken Partnern. Die Gespräche zwischen den verschiedenen im »Großen Patriotischen Pol« zusammengeschlossenen Parteien sind praktisch zum Erliegen gekommen. Kommunisten und andere kleinere Organisationen werfen der Regierung vor, die Privatisierung von Staatsunternehmen wie der Fluggesellschaft Conviasa oder der staatlichen Handelskette Abastos Bicentenario zu betreiben. Man komme der rechten Opposition immer weiter entgegen.

Vor diesem Hintergrund hat die PCV angekündigt, bei einer Nationalkonferenz ihrer Partei Anfang des Jahres zu beraten, ob sie Maduro bei der Präsidentschaftswahl wieder unterstützen wird – oder ob sie mit einem eigenen Kandidaten ins Rennen geht. Reale Chancen auf einen Sieg haben die Kommunisten keine, doch den Staatschef könnte eine Zersplitterung der Linken die entscheidenden Stimmen kosten.

Als möglicher Herausforderer Maduros zeichnet sich Lorenzo Mendoza ab. Der mächtige Chef des Nahrungsmittelkonzerns Polar gilt Anhängern als kompetenter »Außenseiter«, der das ökonomische Chaos in Venezuela beseitigen könnte – und nicht zu den verbrauchten Gesichtern der bisherigen Oppositionskräfte gehört. Während er sich über eine Kandidatur offiziell noch nicht geäußert hat, wird er in der rechten Presse bereits auf den Schild gehoben.

Erschienen am 29. Dezember 2017 in der Tageszeitung junge Welt