Jagd auf Flüchtlinge

NATO und EU führten oder führen Krieg in Libyen, Mali, der Zentralafrikanischen Republik oder heizen Konflikte wie in Syrien an. Doch die Menschen, die davor fliehen, sollen es nicht nach Europa schaffen. Fast zwei Milliarden Euro hat die EU allein zwischen 2007 und 2013 für den Bau von Zäunen, hochentwickelten Überwachungssystemen und Grenzkontrollen ausgegeben. Diese Zahl nennt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in einem Bericht, der unter dem Titel »The Human Cost of Fortress Europe« (Der menschliche Preis der Festung Europa) am heutigen Mittwoch veröffentlicht wird.

 

»Es ist makaber, daß die Europäische Union Milliarden in die Abschottung steckt und keinen Cent ausgibt, um gemeinsam Flüchtlinge im Mittelmeer zu retten«, erklärt dazu die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Selmin Caliskan. Bisher versuche vor allem die italienische Marine mit der Operation »Mare Nostrum«, schiffbrüchige Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten. Rom hatte diese gestartet, nachdem im vergangenen Oktober vor der Mittelmeerinsel Lampedusa 360 Kinder, Frauen und Männer in den Fluten ertrunken waren. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex leistet Rom nur beschränkt Unterstützung, ihre Aufgabe ist nicht die Rettung, sondern die Abwehr der Flüchtenden. Amnesty fordert dagegen eine von allen EU-Ländern finanzierte und koordinierte Seenotrettung.

Darin stimmt Amnesty mit der italienischen Regierung überein. »Das ist eine untragbare Belastung für einen einzigen EU-Mitgliedsstaat«, sagte der Oberbefehlshaber der italienischen Marine, Admiral Filippo Maria Foffi, der Nachrichtenagentur AFP. Mehr als 68000 Menschen sind italienischen Angaben zufolge allein in diesem Jahr über das Mittelmeer nach Italien gekommen, während es im gesamten vergangenen Jahr 43000 gewesen seien. 6000 der Flüchtenden seien Kinder gewesen. Die Menschen, die bei der gefährlichen Überfahrt ihr Leben verlieren, zählt niemand. Die italienischen Aufnahmelager sind überfüllt, die Versorgungssituation wird als katastrophal beschrieben.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) macht sich jedoch vor allem Sorgen darum, ob diese Menschen bis nach Deutschland gelangen könnten. Am Rande der EU-Innenministertagung am Dienstag in Mailand forderte er Rom zur Einhaltung der EU-Asylverfahren auf. »Interessant ist auch, daß die vielen Flüchtlinge, die in Italien ankommen, gar nicht in Italien bleiben, sondern ein nicht unerheblicher Teil in die nördlichen Staaten Europas kommt«, erklärte der Minister. Laut EU-Recht sei der Mitgliedsstaat, in dem ein Mensch ankommt, für die Prüfung eines Asylantrags zuständig. Dort müßten dann auch die entsprechenden Aufnahmeverfahren stattfinden, so der Minister.

Diese als »Dublin II« bekanntgewordene Regelung war 2003 vor allem auf Druck der Bundesregierung verabschiedet worden. Die hatte sich davon vor allem versprochen, daß Flüchtlinge nicht mehr bis nach Deutschland kommen können. »Das Dublin-System führt zu einer grotesken Aushöhlung des Schutzgedankens im EU-Asylsystem«, kritisierte im März die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke (Die Linke). »Statt sich mit den Fluchtgründen der oft traumatisierten Asylsuchenden auseinanderzusetzen, prüft das Asyl-Bundesamt vor allem die Reisewege der Flüchtlinge.«

Während die Menschen, die es nach Europa geschafft haben, in die Mühlen der Bürokratie geraten und zwischen den Mitgliedsstaaten hin- und hergeschoben werden, wagen weiter jeden Tag Hunderte oder Tausende Menschen die Fahrt über das Mittelmeer oder versuchen auf anderen Wegen, die Grenzen zu überwinden. »Europa eröffnet keine legalen Wege für Schutzsuchende, um ihnen die lebensgefährlichen Bootspassagen zu ersparen«, kritisierte Pro Asyl aus Anlaß des Weltflüchtlingstags am 20. Juni. Amnesty bemängelt in dem aktuellen Bericht zudem, daß die EU mit Nachbarstaaten wie der Türkei, Marokko und Libyen kooperiere, um Flüchtlinge abzuwehren. »Die EU versucht, eine Pufferzone um sich herum zu schaffen. Dort werden aber die Rechte der Flüchtlinge oft mit Füßen getreten: Wer in einem Transitland wie der Türkei oder Libyen festsitzt, hat keinen Zugang zu einem ordentlichen Asylverfahren«, sagte Caliskan. »Flüchtlingen droht dort die Verhaftung, in Libyen sogar Folter.«

Erschienen am 9. Juli 2014 in der Tageszeitung junge Welt