Illusion der Abschottung

Fangen wir noch einmal ganz von vorne an: Die EU-Staaten sind zusammen mit den USA und den anderen Staaten der »G 7« maßgeblich an der Ausplünderung und Destabilisierung ganzer Weltregionen beteiligt. Sie waren es, die Kriege in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen und zahllosen weiteren Ländern geführt oder geschürt haben. Unternehmen aus Europa und Nordamerika haben an erster Stelle dazu beigetragen, Afrikas Küsten leerzufischen und durch billige Exporte die einheimischen Bauern und Kleinproduzenten in den Bankrott zu treiben. Korrupte und kriminelle Regime in der Region werden hochgepäppelt oder auch militärisch verteidigt, wenn sie sich willfährig verhalten – oder zum Ziel ganz traditioneller imperialistischer Aggression, wenn sie eigene Interessen verfolgen.

In unserem Teil dieses Planeten tragen EU und NATO deshalb die Hauptverantwortung dafür, dass Millionen Menschen in ihrer Heimat keine Perspektive mehr sehen. Sei es, dass Familien direkt vor Krieg und Verfolgung fliehen, oder junge Männer sich aufmachen, um in Europa zu arbeiten, damit sie Geld nach Hause schicken können.

In Sonntagsreden wird gerne davon gesprochen, die Fluchtursachen bekämpfen zu wollen. Tatsächlich jedoch werden die Flüchtenden bekämpft. Die Illusion, einen Kontinent abschotten zu können, treibt in diesen Tagen immer giftigere Blüten. Die Jagd der neuen italienischen Regierung auf Schiffe von Hilfsorganisationen, die Menschen aus dem Wasser ziehen, ist nur ein weiterer Tiefpunkt eines menschenfeindlichen Kurses.

In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) fast 1.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen, als sie versuchten, nach Europa zu gelangen. Mit Stand vom 24. Juni zählte die IOM 960 Todesfälle. Doch auf dem informellen »Asyltreffen« am Sonntag in Brüssel wurde darüber nicht geredet. Vielmehr ging es darum, Mauern zu bauen, Grenzen zu schließen und die Menschen am besten außerhalb Europas zu internieren – zum Beispiel wohl in den Foltercamps der verschiedenen Bürgerkriegsparteien in Libyen, die von der offiziellen EU mit so wohlklingenden Namen wie »Küstenwache« und »Regierung« geadelt werden.

»Die CSU will ein Signal an die Bevölkerung senden«, ließ sich am Sonntag Bayerns stellvertretende Ministerpräsidentin Ilse Aigner vernehmen. Es sei nicht entscheidend, wie viele Zuwanderer an der bayerischen Grenze tatsächlich zurückgewiesen werden müssten. »Es geht mir um den Polizisten, der vor Ort steht und nicht zurückweisen kann, obwohl er es müsste.« Was Frau Aigner damit zur Linie einer deutschen Regierungspartei macht: Es ist egal, wie Gesetze und internationale Verträge lauten – in diesem Falle u. a. die Europäische Menschenrechts- und die Genfer Flüchtlingskonvention –, wenn wir uns nicht daran halten wollen. Alle anderen aber haben sich unserem Diktat zu beugen. Mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hat das nichts zu tun.

Erschienen am 25. Juni 2018 in der Tageszeitung junge Welt