Heimliche Hauptstadt

An der Plaça Sants in Barcelona quetschen wir uns in das kleine Auto, mit dem uns Roger in der der katalanischen Metropole abholt. Unser Ziel ist an diesem milden Tag keiner der von partyhungrigem Volk überlaufenen Strandorte entlang der Mittelmeerküste. Die Fahrt führt uns über die Autobahn in das Landesinnere. Rund 70 Kilometer nordöstlich von Barcelona liegt Vic. Die Hauptstadt des Bezirks Osona wird Touristen in Reiseführern vor allem wegen ihres mittelalterlichen Stadtkerns und der zahlreichen Sehenswürdigkeiten empfohlen. Erreichbar ist die Gemeinde auch in etwa anderthalb Stunden mit der Regionalbahn. Vom Nordbahnhof aus, der Estació del Nord, erreicht man zu Fuß in etwa zehn Minuten den historischen Stadtkern mit der Kathedrale und dem bischöflichen Museum. Der ist verkehrsberuhigt und nahezu autofrei. Die meisten Fahrzeuge landen in der zentral gelegenen Tiefgarage, gut versteckt unter geklinkerten Straßenzügen.

Auch auf der Plaça Major, dem Rathausplatz, sind Autos nicht vorgesehen. Bäume allerdings auch nicht. Der 4.500 Quadratmeter große Platz besteht vor allem aus festem, hellen Sand. Nur an den Rändern ist er mit weißen Gehwegplatten eingefasst. Jeden Dienstag und Samstag findet hier der Wochenmarkt statt, auf dem die Händler Obst, Gemüse, Kleidung und andere Waren anbieten. An den anderen Tagen ist die Plaça Major weitgehend ungenutzt und liegt leer in der prallen Sonne. Das kleine Mädchen, das mit seinem Großvater und einem Ball über den Platz tobt, stört das allerdings überhaupt nicht. Viel faszinierender findet es den Versuch, seinen eigenen Schatten im Sand wegzuwischen. Als das nicht klappt, rennt es wieder dem Ball hinterher.

Der ganze Platz ist von hohen, meist im Jugendstil errichteten Gebäuden umgeben, von denen das jüngste wohl die Anfang des 20. Jahrhunderts errichtete Casa Costa ist. Unter den Arkaden, die sich im ganzen Rund an den Gebäuden entlangziehen, haben Geschäfte und kleine Bars geöffnet, in denen es sich bei einem Milchkaffee gut aushalten lässt. Der Blick wandert über die Fassaden, an denen unzählige Fahnen und Transparente hängen, die ein Referendum über die Eigenständigkeit Kataloniens fordern. »Unabhängigkeit bedeutet soziale Gerechtigkeit« verspricht eines, »Unabhängigkeit bedeutet Würde« ein anderes. In einer Ecke des Platzes ist das Rathaus eingeklemmt, das – 1388 erbaut – zu den ältesten Gebäuden hier gehört. Vom Fahnenmast am Balkon weht die Flagge mit dem Stadtwappen, an der Brüstung hängt die »Estelada«, die Fahne der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Nur in der Zeit des Wahlkampfs vor den Kommunalwahlen Ende Mai wurde die Flagge mit dem blauen Dreieck und dem weißen Stern vorübergehend eingeholt. Damit befolgte die Stadtverwaltung zähneknirschend eine Anordnung der zentralen Wahlbehörde. Die offizielle Flagge Spaniens suchte man hier aber auch in dieser Zeit vergebens, denn das Gesetz, das das Hissen des Banners der Monarchie verlangt, wird von den Autoritäten in Vic schon seit Jahren ignoriert. Damit steht Vic nicht alleine. Der Streit um die Fahne und andere Symbole der Monarchie hält die spanische Justiz seit Jahren in Atem, denn in vielen Gemeinden weigern sich ungehorsame Verwaltungen, die offizielle Staatsfahne zu hissen. Die meisten dieser Aufsässigen gibt es in Katalonien und im Baskenland, wo so für die Unabhängigkeit demonstriert wird. Aber auch in anderen Teilen des spanischen Staats gibt es Städte und Dörfer, die den rot-gelb-roten Stoff nicht zeigen wollen. So wehen am Rathaus des seit Jahrzehnten links regierten Marinaleda zwischen Malaga und Cordoba nur die Fahnen Andalusiens und die der Spanischen Republik.

Auch in Barcelona kommt es in diesem Zusammenhang immer wieder zu Streitigkeiten, vor allem seit die Millionenstadt mit Ada Colau eine linke Bürgermeisterin hat. Zwar weht am Rathaus an der Plaça de Sant Jaume noch die Fahne der Monarchie neben dem Banner Kataloniens und der Flagge Barcelonas. Doch Ende Juli ließ die Lokalregierung die seit 1976 im Plenarsaal des Stadtrats stehende Büste des früheren spanischen Königs Juan Carlos entfernen und in einem Pappkarton abtransportieren. Der Monarch sei seit seiner Abdankung 2014 kein Staatsoberhaupt mehr, lautete die offizielle Begründung – ergänzt um die Ankündigung, man wolle sich bei der öffentlichen Darstellung Barcelonas mehr auf die republikanischen Traditionen der Stadt konzentrieren, »die in der Vergangenheit nicht immer angemessen gewürdigt wurden«. Empört reagierte erwartungsgemäß die Volkspartei (PP), deren Wurzeln noch im Franco-Regime stecken und die in Madrid mit Mariano Rajoy den spanischen Ministerpräsidenten stellt. Deren Stadträte stellten ein Foto des aktuellen Königs Felipe VI. auf den freigewordenen Platz, doch auch dieses Bild blieb nur einige Minuten dort stehen.

Mit den spanischen Monarchen kann man auch in Vic nichts anfangen. Die gut 40.000 Einwohner zählende Ortschaft gilt als heimliche Hauptstadt der katalanischen Separatisten. Josep Maria Vila d’Abadal, der bis zum 15. Juni Bürgermeister der Stadt war, gründete 2011 die Vereinigung der »Gemeinden für die Unabhängigkeit« (AMI), in der sich inzwischen 720 der 947 Gemeinden Kataloniens zusammengeschlossen haben. Knapp 200 von ihnen haben sich sogar zu »freien katalanischen Territorien« erklärt, in denen die spanischen Gesetze und Anordnungen nur noch »provisorisch« gelten, bis das Parlament des dann unabhängigen Kataloniens eigene Regelungen erlässt. Als erste Gemeinde hatte sich die Kleinstadt Sant Pere de Torelló am 3. September 2012 diesen Status gegeben, nur zehn Tage später folgte Vic. Einen Kurswechsel wird es auch unter der neuen Bürgermeisterin Anna Erra – der ersten Frau an der Spitze der Stadtverwaltung von Vic – nicht geben. Schon ihren Amtseid ergänzte sie um die von der AMI allen neugewählten Bürgermeistern vorgeschlagenen Zusatz, sie werde die aus den katalanischen Wahlen am 27. September hervorgehenden Autoritäten »bei der Ausübung der Selbstbestimmung unseres Volkes und bei der Proklamation des freien und souveränen katalanischen Staates« unterstützen. Die Befürworter der Eigenständigkeit wollen die vorgezogenen Parlamentswahlen zu einem Plebiszit machen und – sofern sie die Mehrheit erringen – einseitig die Souveränität Kataloniens ausrufen sowie den Prozess der Abspaltung von Spanien in Gang setzen. Eigentlich hätte über diese Frage im vergangenen Dezember ein Referendum entscheiden sollen, doch das war auf Betreiben der Regierung in Madrid vom spanischen Verfassungsgericht verboten worden. Bei der daraufhin durchgeführten inoffiziellen »Volksbefragung« votierten mehr als 80 Prozent der Teilnehmenden für die Konstituierung eines unabhängigen katalanischen Staates – in Vic lag die Zustimmung sogar bei mehr als 92 Prozent.

Als wir durch die engen Gassen des mittelalterlich anmutenden Städtchens schlendern, vorbei an der Barockkirche Església de la Pietat aus dem 17. Jahrhundert und an dem noch einige Jahrhunderte älteren römischen Tempel, scheinen Wirtschaftskrise und politische Wirren weit weg. Doch Roger, der in einem kleinen Dorf unweit der Stadt wohnt und in der Linksallianz CUP (Kandidatur der Volkseinheit) aktiv ist, warnt uns: »Es gibt eigentlich nicht nur ein Vic, sondern gleich zwei«, ein »weißes« und ein »schwarzes«. Damit meint er nicht nur den Kontrast zwischen der romantischen Altstadt und den schnell hochgezogenen Mietskasernen, die zusammen mit der Autobahn nach Barcelona einen unwirtlichen Gürtel um den Ort gezogen haben. Auch politisch ist Vic polarisiert. Die sich in Spanien an der Regierung abwechselnden Konservativen der PP und Sozialdemokraten der PSOE sind in Vic marginalisiert und müssen froh sein, wenn sie überhaupt im Stadtrat vertreten sind. Stärkste Partei wurde im Mai erneut die bürgerliche Parteienallianz CiU. Obwohl diese im Juni an unterschiedlichen Positionen zur Unabhängigkeit zerbrochen ist, stellt sie in Vic weiter die Kommunalregierung. Zweite Kraft ist die Republikanische Linke Kataloniens (ERC), gefolgt von der CUP, die bei der Wahl im Mai mit der Bündnisliste »Capgirem Vic« (Wir wälzen Vic um) angetreten ist. Die rechte Opposition stellt die rassistische und von Roger als neofaschistisch bezeichnete »Plattform für Katalonien« (PxC), die zum Beispiel fordert, »illegalen« Einwanderern jede Gesundheitsversorgung zu verweigern. In Vic zumindest konnte sie mit diesem Kurs bei den Kommunalwahlen nicht punkten, sie rutschte von fünf auf nur noch einen Stadtrat ab. Außerparlamentarisch blieb auch die ausländerfeindliche Gruppierung »Wir sind Katalanen«. Als diese sich im vergangenen November in Vic mit einer Veranstaltung der Öffentlichkeit präsentierte, reagierten nicht weniger als 18 Organisationen – Gewerkschaften, Parteien, Studentenvereinigungen und Jugendverbände – mit einer Protestkundgebung, an der Hunderte Einwohner teilnahmen. Nur unter Polizeischutz konnten die Rassisten in einem Gemeindezentrum ihre Versammlung abhalten, deren Zulauf gering blieb. Trotzdem besteht die Gefahr, dass die ultrarechten Kräfte zur Normalität in Vic werden. Das befürchtet jedenfalls Nil Puigvila von der CUP. Im Gespräch mit dem Internetportal Directa.cat begrüßte er zwar, dass sich Mitglieder der CiU an der Kundgebung beteiligten, erinnerte aber daran, dass die von dieser gestellte Stadtregierung Monate zuvor auf die Stimmen der PxC zurückgegriffen hatte, um den Haushalt zu beschließen.

Das Zentrum von Vic dominieren offenkundig die Linken. Davon zeugen unzählige Sprühparolen und Aufkleber an den Verkehrsschildern. Die Rechten versuchen sich dagegen vor allem in den ärmeren Außenbezirken breitzumachen. Hier haben Wirtschaftskrise und Sozialabbau viele Menschen in Armut gestürzt. Durch den Zuzug von rund 10.000 Menschen, viele von ihnen Einwanderer aus Afrika, ist die Einwohnerzahl in Vic in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten um rund ein Viertel gewachsen. Da fällt es manchem leicht, die neu Hinzugezogenen für die eigene Misere verantwortlich zu machen. Andere geben allein Spanien die Schuld für alle Probleme und glauben, dass diese einfach verschwinden, wenn Katalonien nur erst unabhängig ist.

Das lässt Roger nicht gelten. Er hält die Abspaltung von Spanien zwar für die Voraussetzung einer Revolution. Doch wenn dann die grundsätzlichen sozialen Veränderungen ausbleiben würden, wäre die Bildung eines eigenen Staates sinnlos. »Unabhängigkeit, um alles zu verändern«, ist der Slogan seiner CUP. »Wir haben ein radikales, soziales Programm formuliert, das wir den anderen Parteien als Bedingung für eine eventuelle Unterstützung vorlegen. Damit wollen wir die Widersprüche in den bürgerlichen Parteien zuspitzen«, erläutert er. Im Mittelpunkt des Kommunalwahlkampfs standen deshalb die Zwangsräumungen von Wohnraum, durch die auch in Vic zahlreiche Menschen ihr Obdach verloren haben. »Wir sind keine Berufspolitiker und wollen auch keine sein. Wir sind die, die ihr nicht habt zu Hause bleiben lassen und die nun sehen müssen, wo sie bleiben«, war ein zentraler Slogan der Bündnisliste »Capgirem Vic«.

Ihr beliebtester Treffpunkt ist das soziale Zentrum La Buixarda (Vorschlaghammer) mitten in der Altstadt von Vic. Direkt nebenan in einer kleinen Seitenstraße haben sie unter freiem Himmel Tische aufgestellt und servieren Würste und Salat. Überrascht registrieren wir, dass sie die Stühle für das Picknick aus der Kirche gegenüber holen. Das Gotteshaus gehört den »Söhnen des unbefleckten Herzens der seligen Jungfrau Maria«, den Claretinern. Dieser katholische Orden wurde 1849 in Vic von Antonius Maria Claret y Clará gegründet, der später als Bischof nach Kuba ging und 1950 heiliggesprochen wurde. Das Verhältnis zwischen den Ordensbrüdern und den nicht gerade religiösen Besuchern der Buixarda ist offenkundig entspannt. »Die haben alle links gewählt«, behauptet schmunzelnd einer, während er die Klappstühle aus dem Innenhof der Kirche holt. Überprüfen können wir das nicht, doch die Atmosphäre spricht für sich.

Erschienen am 8. August 2015 in der Tageszeitung junge Welt