Handhabbare Wahrheit

Ein kühles und relativ ungemütliches Wochenende in Nürnberg. Der Stadtteil Eberhardshof lädt bei solchem Wetter noch weniger als sonst zu einem Ausflug ein. Die Industriebrachen geschlossener Unternehmen wie AEG, Triumph Adler und Quelle prägen das Bild an der Ausfallstraße in Richtung Fürth. Mühsam wird versucht, die Gegend wieder mit Leben zu füllen, indem etwa ein »Energie Campus« eingerichtet wird – der bislang jedoch vor allem eine Baustelle ist.

Dort, wo früher bei AEG Waschmaschinen zusammengeschraubt wurden, herrscht an diesen Novembertagen jedoch ungewohnt viel Leben. In der »Kulturwerkstatt Auf AEG« hat die Linke Literaturmesse einen neuen Austragungsort gefunden, nachdem das Künstlerhaus, früher KOMM, am Hauptbahnhof wegen Sanierungsarbeiten nicht zur Verfügung stand. Die neue Location tat dem Zuspruch des Publikums wenig Abbruch – auf rund 1.500 Besucherinnen und Besucher schätzten die Organisatoren gegenüber junge Welt die Beteiligung bei der schon 23. Ausgabe dieser bundesweit einmaligen Veranstaltung. Sie wurden vor dem Gebäude von einem großen Transparent begrüßt, das neben einem Porträt von Bertolt Brecht verkündete: »Die Kunst, die Wahrheit handhabbar zu machen …«

Es war das auch schon aus früheren Jahren bekannte Bild bunten Trubels. Tisch an Tisch reihten sich Verlage, Buchvertriebe und Antiquariate aneinander. Anarchisten boten Publikationen über die Spanische Revolution an, der Verlag Neuer Weg warb für eine Broschüre über die »Antideutschen«, die DKP verteilte kostenlose Probe­exemplare ihrer Wochenzeitung Unsere Zeit. Am Stand der Freundschaftsgesellschaft BRD–Kuba gab es Kaffee, Rum, Cuba Libre (die Zeitschrift, nicht den Cocktail) und die deutschsprachige Ausgabe der Granma zu kaufen. Und Pralinen. Anderswo wurden währenddessen alte Plakate zu stolzen Preisen angeboten, daneben gab es Mao-Bibeln in englischer und französischer Sprache. Und natürlich fehlten auch junge Welt und Melodie & Rhythmus nicht – etwas versteckt allerdings, denn um zu diesen Ständen vorzudringen, musste man zuerst einen schmucklosen, leeren Flur passieren, von dem die Veranstaltungsräume abgingen. Der kleine Hinweiszettel, dass es hinter diesem Gang noch weitere Angebote gab, fiel kaum auf. Gut also, dass die Besucher schon draußen vor dem Eingang von den gelben Sonnenschirmen mit dem jW-Logo begrüßt wurden und ihr Freiexemplar bekamen.

Das Veranstaltungsprogramm war wieder vollgepackt und lud zu einem Schweinsgalopp durch das gesamte Universum linker Themen ein. Die Palette reichte vom 100. Jahrestag der Novemberrevolution 1918 über »Solidarität und Kollektivität in der Postmoderne« und militanten Feminismus in Westdeutschland seit 1968 bis zu »Syrien – ein Land im Widerstand«, die Entfremdungstheorie bei Karl Marx und Strategien gegen Gentrifizierung. Volker Hermsdorf stellte seine Biographie über Fidel Castro vor, Georg Fülberth sein Werk über Friedrich Engels. Man hatte die Qual der Wahl, denn vier oder fünf Lesungen oder Diskussionen fanden immer gleichzeitig statt. Und so stand man plötzlich vor der Entscheidung, ob man sich mit Kanada oder dem Nahen Osten, mit der Türkei oder Lateinamerika beschäftigen wollte.

Erschienen am 5. November 2018 in der Tageszeitung junge Welt