Graffiti und Wirtschaftskrieg

Internationaler Frauentag in Venezuela: In einem großen Zelt, das im Innenhof des Präsidentenpalastes Miraflores errichtet wurde, versammeln sich am Donnerstag in Caracas Hunderte Frauen, die in verschiedenen Initiativen und staatlichen Einrichtungen aktiv sind. Donnernder Beifall, als Staatschef Nicolás Maduro die Bühne betritt.

Maduro eröffnet seine Ansprache mit einem Gruß an die Teilnehmerinnen des am 8. März in zahlreichen Ländern der Welt ausgerufenen Frauenstreiks. Er erinnert daran, dass zum Beispiel in Spanien Mütter besonders betroffen sind, wenn ihre Familien aus ihrer Wohnung vertrieben werden. In Venezuela dagegen habe die Regierung in den vergangenen Jahren zwei Millionen Wohnungen errichtet, die praktisch ohne Kosten zur Verfügung gestellt würden. Bis zum nächsten Jahr sollen es drei Millionen sein, das Ziel sind fünf Millionen.

Frauen spielen im politischen Prozess in Venezuela auch dann eine besondere Rolle, wenn nicht gerade der Internationale Frauentag gefeiert wird. So werden zwischen 70 und 80 Prozent der »Lokalkomitees für Ernährung und Produktion« (CLAP) von Frauen geleitet. Diese Gruppen sorgen für die Verteilung der Lebensmittelpakete, durch die Familien zu einem nahezu symbolischen Preis mit Grundnahrungsmitteln versorgt werden: Nudeln, Reis, Milchpulver, Speiseöl, Maismehl, Bohnen, Thunfisch und Zucker. Bezahlen müssen die Empfänger dafür 25.000 Bolivares, was nach offiziellem Wechselkurs etwa 40 Eurocent entspricht.

Für Millionen Menschen sind diese Lieferungen lebenswichtig, denn das monatliche Mindestgehalt liegt in Venezuela bei knapp 400.000 Bolivares, etwa neun Euro nach dem offiziellen Kurs. Auf dem Schwarzmarkt bekommt man dafür höchstens zwei Euro.

Die CLAP haben durch den Vertrieb der Pakete erreicht, dass die langen Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften verschwunden sind, die noch 2015 und 2016 das Straßenbild prägten. Da die Grundversorgung zumindest in Städten wie Caracas gesichert ist, haben die Händler kein Interesse mehr daran, solche Waren zu horten und nur noch unter dem Ladentisch zu verkaufen. Verknappt werden nun gezielt Produkte, die nicht in den CLAP-Paketen enthalten sind, etwa Toilettenpapier.

Vieles bleibt indes unerschwinglich. So verlangen die Händler momentan für 250 Gramm jungen Käse nicht weniger als 400.000 Bolivares. Ein Kilogramm Putenwurst schlägt mit 720.000 Bolivares zu Buche. Die Händler begründen ihre Phantasiepreise mit den Schwarzmarktkursen, die von Miami aus über Internetseiten wie Dolar Today festgelegt werden.

Nicht alle Preise sind derart astronomisch. Die oppositionelle Tageszeitung El Nacional ist für 8.000 Bolivares erhältlich. Offensichtlich ist die Stimmungsmache gegen die Regierung wichtiger als das Profitinteresse der Besitzer.

Bei einem Spaziergang durch die venezolanische Hauptstadt fällt auf, dass direkt neben einem Laden, in dem für Gemüse unbezahlbare Preise verlangt werden – die allerdings trotzdem gezahlt werden –, oft kleine Imbisse oder Straßenhändler relativ günstige Speisen anbieten, zum Beispiel die typischen Cachapa mit Käse für 70.000 Bolivares.

Wer nach der Berichterstattung in den internationalen Medien ein Caracas erwartet hat, in dem totales Chaos herrscht, wird überrascht: Die Stadt präsentiert sich seit früheren Besuchen kaum verändert: Die Gebäude sind ebenso gepflegt oder ungepflegt wie in den vergangenen Jahren. Noch immer liegen Müllhaufen auf der Straße, auch wenn die Stadtreinigung sich Mühe gibt, die Bürgersteige oder Parkanlagen einigermaßen in Ordnung zu halten. Gegen die verbreitete Unsitte, Papier und Essensreste einfach fallen zu lassen, kommen auch die Straßenkehrer nicht an.

Häufiges Thema der Berichterstattung im In- und Ausland ist die Kriminalität. Tatsächlich treiben sich in den Straßen von Caracas Verbrecher herum, die es derzeit vor allem auf neuere Mobiltelefone abgesehen haben. Viele Menschen behalten deshalb lieber ihre alten Geräte, auch wenn sie damit nicht ins Internet gehen können. Aber immerhin sind sie erreichbar.

Die Antwort auf die Kriminalität kommt von unten. Unmittelbar an der Grenze zur Fuerte Tiuna, dem Gelände des Oberkommandos der venezolanischen Armee, haben junge Leute ein Gelände in Besitz genommen und ein Kulturprojekt hochgezogen, das auf den ersten Blick aus einer wilden Konstruktion aus alten Containern und Holzpaletten besteht. Doch wenn man das Gelände betritt, stößt man als erstes auf ein Restaurant, in dem an den Wochenenden Sancocho – ein typisch venezolanischer Eintopf – serviert wird.

»Unser Zentrum entstand als Versuch, junge Menschen von der Straße und aus der Kriminalität zu holen«, erzählt uns Wolfgang, der keine Ahnung hat, warum ihm seine Eltern diesen deutschen Vornamen gegeben haben. Der 27jährige bevorzugt seinen Künstlernamen Badsura, unter dem er insbesondere in der Graffitiszene bekannt ist. Stolz zeigt er uns seine Künstlerwerkstatt, eine komplett ausgestattete Siebdruckerei. »Wir haben gemerkt, dass es nicht reicht, die Mauern unserer Stadt mit unseren Graffiti und Wandbildern zu erobern. Deshalb haben wir begonnen, auch andere Wege zu suchen. Daraus ist die Herstellung der T-Shirts entstanden, die wir unten in einem kleinen Laden verkaufen.«

So tragen vor allem Jugendliche das Bild von Hugo Chávez oder des Volkssängers Alí Primera auf der Brust und finanzieren so auch das Kulturprojekt mit. Die Aktivisten sind stolz darauf, nicht vom Staat abhängig zu sein, auch wenn sie keine Scheu haben, sich von den Behörden unterstützen zu lassen. Es ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, denn aus den Reihen von Tiuna El Fuerte sind schon Ministerinnen und andere hohe Funktionäre hervorgegangen. Hier atmet man heute noch den Aufbruch der Bolivarischen Revolution.

Erschienen am 12. März 2018 in der Tageszeitung junge Welt