Gespräch mit Álvaro García Linera: »Wir müssen den Winter überstehen«

[tds_info]Álvaro García Linera ist seit 2006 Vizepräsident Boliviens[/tds_info]

In der letzten Zeit hört man wenig von der »Bolivarischen Allianz für die Völker unseres Amerikas«, ALBA, die 2004 von Hugo Chávez und Fidel Castro gegründet wurde und deren Mitglied Bolivien ist. Welche Aufgabe hat dieser Staatenbund heute?

Die ALBA ist heute die einzige regionale Instanz, die das Recht der Völker auf freie Selbstbestimmung verteidigt, damit sie selber ihre Probleme lösen können. Wir brauchen keine Ratgeber von außen, die Probleme in den verschiedenen Ländern müssen von den Völkern selbst gelöst werden. Wir respektieren das Grundprinzip des friedlichen Zusammenlebens der Staaten. Derzeit ist nicht der beste Augenblick in der Geschichte der ALBA, wir haben Schläge erlitten, wir sind belagert worden, aber wir können Widerstand leisten. Und das tun wir in Vertrauen darauf, dass es eher früher als später eine neue Welle fortschrittlicher Regierungen geben wird, die den Prozess einer horizontalen Integration wieder ausweiten wird – eine Integration Lateinamerikas, die sich nicht dienerisch irgendeiner Macht unterwirft. ALBA ist ebenso wie die CELAC und Unasur ein Ergebnis der außergewöhnlichsten Epoche der Integration der Völker ohne fremde Herren. Zum ersten Mal haben wir uns als Lateinamerikaner zusammengesetzt, ohne dass uns andere sagten, was wir tun müssten. Das war eine außergewöhnliche Erfahrung, die sich wiederholen muss, in gereinigter, erweiterter Form und unter Einbeziehung auch ökonomischer und nicht nur politischer Themen. Aber es ist klar, dass das ein Anfang war, ein Saatkorn. Nun müssen wir vielleicht den Winter überstehen. Aber nach dem Winter folgt der Frühling, in dem dieses Saatkorn wieder sprießen und erblühen wird.

Wie kann die ALBA zur Lösung der Probleme beitragen, die derzeit Venezuela erschüttern?

Erstens: Diese Frage kann nur entsprechend dem Prinzip der Nichteinmischung anderer Mächte in die inneren Angelegenheiten Venezuelas angegangen werden, auf keinen Fall jedoch mit der Drohung einer Militärintervention in Venezuela. Zweitens: Dabei helfen, dass sich die verschiedenen Seiten in Venezuela zusammensetzen, um ihre Probleme zu besprechen. Drittens: Wir unterstützen das, was sie entscheiden, was diese antagonistischen oder gegnerischen Kräfte entscheiden. Wir sind nicht diejenigen, die den Weg weisen können. Aber wir sind diejenigen, die dazu beitragen werden, Einmischung oder Invasionen zu verhindern. Wir vertrauen darauf, dass das venezolanische Volk eher früher als später über den Weg entscheiden wird, den es gehen will, um seine politischen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen.

Wir haben gesehen wie in Nicaragua und in Venezuela Kräfte mit ausländischer Unterstützung gegen die gewählten Regierungen mobil gemacht haben. Befürchten Sie, dass wir im Umfeld der Präsidentschaftswahlen im Oktober auch in Bolivien etwas ähnliches erleben werden?

Das ist wahrscheinlich. Ich hänge der folgenden Philosophie an: Wenn Sie ein Glas haben und einen Stein darauf werfen und dieses kaputt geht – warum geht es kaputt? Ist es die Schuld des Steins oder liegt es daran, dass das Glas nicht stabil genug war, dem Stein standzuhalten? Auf das Glas werden immer Steine aus der einen oder anderen Richtung geworfen werden. Die Aufgabe ist, ein Glas zu bauen, das nicht zerbrochen werden kann. Es ist dann vielleicht kein Gefäß aus Glas mehr, sondern eines aus Eisen. Es wird immer Angriffe äußerer Kräfte geben, denen die Souveränität, die Autonomie und das Recht auf freie Selbstbestimmung der Völker nicht gefällt, die ein unterworfenes Lateinamerika wollen, das um Almosen bettelt. Das wird es immer geben.

Die Aufgabe der fortschrittlichen Kräfte ist es, einen Prozess aufzubauen, der nicht zerbrochen werden kann. Ob die Steine von links oder rechts, von oben oder unten, von innen oder außen kommen – er darf nicht kaputtgehen. Die Aggressionen werden immer auf der Tagesordnung stehen. Es kommt darauf an, das Projekt einer Gesellschaft zu entwickeln, die es versteht, diese Aggressionen zurückzuschlagen. Das können wir aus den zurückliegenden Erfahrungen lernen: Der Standard ist, dass sie uns angreifen werden. Das müssen wir im voraus wissen, damit wir einen Prozess aufbauen können, der diesen Schlägen widerstehen, der diese Schläge aushalten kann. Das ist die Aufgabe, vor der jede fortschrittliche Regierung in der ganzen Welt steht. Die konservativen Kräfte geben niemals kampflos auf. Der Baum, den du pflanzt, muss feste und tiefe Wurzeln schlagen, damit er Früchte tragen kann.

Erschienen am 13. April 2019 in der Tageszeitung junge Welt