Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Mit einem offiziellen Staatsbesuch Fidel Castros haben die glänzenden Beziehungen zwischen dem sozialistischen Kuba und dem bolivarianischen Venezuela Ende Oktober einen weiteren Höhepunkt erlebt.

Dem Besuch fehlte es nicht an symbolischen Bezügen. So besuchte Fidel das Mausoleum des Befreiers Simón Bolivar und sprach gemeinsam mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez auf mehreren Kundgebungen, bei denen der kubanische Revolutionär in seiner berühmten grünen Uniform mit Sprechchören "Fidel, Freund, das Volk ist mit dir" gefeiert wurde. Doch auch ganz praktisch hatte der Besuch Ergebnisse. Kuba wurde in das Abkommen von San José aufgenommen, das es ihm erlaubt, von Venezuela, dem erdölreichsten Land der Welt außerhalb der Golfregion, Erdöl zu Preisen unterhalb des Weltmarktes und auf langfristige Kredite zu niedrigen Zinsen zu kaufen. Ein Abkommen, das von der venezolanischen Rechten dazu genutzt wurde, der bolivarianischen Regierung vorzuwerfen, sie wolle doch "bloß Kuba helfen". Fidel selbst entgegnete auf diesen Vorwurf, dass Chávez in diesem Falle "ein Denkmal so hoch wie der Mount Everest" verdient habe und erinnerte an die lange Geschichte der Blockade Kubas, der sich zeitweilig außer Mexiko alle lateinamerikanischen Länder angeschlossen hatten.

Offizieller Höhepunkt des mehrtägigen Besuches war eine Ansprache Fidels vor der venezolanischen Nationalversammlung. Abgeordnete der rechten Oppositionsparteien hatten die Sitzung boykottiert, bei der Fidel Castro der Regierung Chávez die Solidarität Kubas versicherte, aber auch deutlich auf tiefgreifende Unterschiede zwischen beiden Ländern und beiden revolutionären Prozessen hinwies:

"In einer schlaflosen Nacht, wie ich sie nicht einmal in den fieberhaften Zeiten als Student, der sich auf das Examen vorbereitete, verbracht habe, habe ich die wesentlichen Konzepte des venezolanischen Projektes gelesen und unterstrichen und sie mit unserem Grundgesetz verglichen. Mit der Verfassung Kubas in der einen und dem Projekt Venezuelas in der anderen Hand habe ich die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der einen und der anderen revolutionären Konzeption herausgearbeitet. Ich sage revolutionär, denn beide sind es: Beide wollen ein neues Leben für ihre Völker, sie haben radikale Veränderungen zum Ziel, beide sehnen sich nach Gerechtigkeit und verfolgen das Ziel der engen Union der Völker Amerikas. (…) Beide kämpfen standhaft um den Schutz der Souveränität, der Unabhängigkeit und der kulturellen Identität unserer beiden Völker..

Unsere Verfassung baut essentiell auf dem Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, der Planung der Entwicklung, der aktiven, organisierten und massenhaften Beteiligung aller Bürger an der politischen Aktion und am Aufbau einer neuen Gesellschaft auf, auf der engen Einheit des ganzen Volkes unter der Führung einer Partei, die Normen und Prinzipien garantiert, aber die Repräsentanten des Volkes in den Machtorganen des Staates weder vorschlägt noch wählt, eine Aufgabe, die vollkommen den Bürgern mittels ihrer Massenorganisationen und den etablierten gesetzlichen Mechanismen obliegt.

Die venezolanische Verfassung bewegt sich im Rahmen einer Marktwirtschaft, das Privateigentum genießt die umfassendsten Garantien. Die berühmten drei Gewalten von Montesquieu, die als die tragenden Säulen der traditionellen bürgerlichen Demokratie gelten, werden von neuen Institutionen und Kräften komplettiert, um das Gleichgewicht in der politischen Führung der Gesellschaft zu garantieren. Das Mehrparteiensystem bleibt etabliert als grundlegendes Element. Man müsste ignorant sein, um eine Ähnlichkeit zwischen beiden Verfassungen zu sehen."

Doch Fidel machte auch deutlich, dass die marktwirtschaftliche Ordnung nicht seinen Überzeugungen entspricht, wenn er auch Venezuela zugesteht, aufgrund seines natürlichen Reichtums trotz dieser kapitalistischen Strukturen für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen zu können:

"Es bleibt logischerweise eine andere, komplizierte Frage: Kann unter den Bedingungen einer Marktwirtschaft ein höheres Niveau sozialer Gerechtigkeit als das heutige erreicht werden? Ich bin Sozialist und überzeugter Marxist. Ich denke, dass die Marktwirtschaft Ungleichheit, Egoismus, Konsumsucht, Verschwendung und Chaos gebiert. Ein Minimum an Planung der ökonomischen Entwicklung und der Prioritäten ist unverzichtbar. Aber ich denke, dass in einem Land mit solch enormen Ressourcen, wie denen, über die Venezuela verfügt, die Bolivarianische Revolution in der Hälfte der Zeit 75 Prozent von dem erreichen kann, was Kuba als blockiertes und an Bodenschätzen unendlich ärmeres Land seit dem Sieg der Revolution erreichen konnte. Das bedeutet, es liegt in der Reichweite dieser Regierung, den Analphabetismus in wenigen Jahren vollkommen zu beseitigen, eine hochwertige Bildung für alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu erreichen, ein allgemein höheres Kulturniveau für die Mehrheit der Bevölkerung, eine optimale medizinische Betreuung für alle Bürger zu garantieren, allen Jugendlichen Arbeit zu geben, die Veruntreuung zu eliminieren, die Kriminalität auf ein Minimum zu reduzieren und allen Venezolanern anständigen Wohnraum zu verschaffen.

Eine rationale Verteilung der Reichtümer mittels adäquaten Steuersystemen ist innerhalb einer Marktwirtschaft möglich. Das verlangt eine völlige Hingabe aller revolutionären Kräfte und Aktivisten. Das sagt sich leicht, aber in der Praxis stellt dies eine verdammt schwierige Arbeit dar. Nach meiner Einschätzung hat Venezuela kurzfristig keine andere Alternative. Auf der anderen Seite ist nicht wenige als 70 Prozent des grundlegenden Reichtums Eigentum der Nation. Der Neoliberalismus hatte nicht genug Zeit, alles dem ausländischen Kapital zu übergeben; es muss nicht einmal etwas nationalisiert werden."

Abschließend warnte Fidel vor Attentaten auf den venezolanischen Präsidenten. In der Vergangenheit hatte der kubanische Sicherheitsdienst bereits solche Pläne der exilkubanischen Mafia in Miami, die Venezuela auf dem Weg sieht, ein neues Kuba zu werden, aufgedeckt. Mit den Worten "Ein wirklich olympischer Rekord" wies Fidel auch auf die insgesamt mehr als 600 Verschwörungen gegen seine eigene Person hin.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ- Unsere Zeit vom 10. November 2000