Gegen einen »Gottesstaat«

Die junge Frau in den hautengen Jeans heizt ihren Mitstreitern lautstark ein. »Das Volk will Baschar Al-Assad«, ruft sie in das Mikrofon, das ihre Stimme zu den scheppernden Lautsprechern überträgt. Rund 300 Menschen sind am Sonnabend einem über das Internetnetzwerk Facebook verbreiteten Aufruf »Für ein modernes Sy­rien unter Baschar Al-Assad« zu einer Kundgebung vor der russischen Botschaft in Berlin gefolgt. Vor allem in Deutschland lebende Syrer, unter ihnen viele junge Frauen und Männer, prägten das Bild. Daneben beteiligten sich auch Mitglieder einer linken türkischen Partei an der Aktion, die auf Schildern von Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) ein Ende des »Flirts« mit dem türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan und den Monarchien am Persischen Golf forderten. Gegen die westliche Einmischung in Syrien protestierten auch die »Mütter gegen den Krieg Berlin/Brandenburg«, die an die Parallelen zu den Interventionen in Jugoslawiens und Libyen erinnerten.

Von der Polizei auf Abstand gehalten wurden etwa drei Dutzend Gegendemonstranten, die versuchten, sich mit Rufen »Syrien will Freiheit, Syrien will Demokratie« Gehör zu verschaffen. Neben einer kurdischen Flagge schwenkten sie die in den vergangenen Monaten bei den Regierungsgegnern wieder populär gewordene grün-weiß-schwarze Fahne mit den drei Sternen, die von 1932 bis 1958 und dann noch einmal von 1961 bis zur Machtübernahme der Baath-Partei 1963 Nationalflagge Syriens gewesen war.

Das seien alles islamistische Fundamentalisten, Salafisten, erklärte auf der anderen Seite ein Demonstrant, der die heutige Fahne Syriens trug. Er zeigte auf die traditionelle Kleidung der meisten Gegendemonstranten, bei denen die wenigen Frauen ihr Kopftuch eng gebunden trugen, während auf seiner Seite die meisten Teilnehmerinnen ihr Haar offen zeigten und sich auch sonst westlich gestylt präsentierten. Sie stünden hier für das moderne Syrien, während die anderen das Land ins Mittelalter zurückstürzen wollten, erklärte er.

»Mit unserer Demonstration wollen wir zeigen, daß wir gegen eine ausländische Intervention und für den Friedensplan von Kofi Annan sind, und daß immer noch viele Menschen, die meisten Syrer, hinter Präsident Assad und seinem Reformprozeß stehen«, erklärte Safi Hasan, einer der Organisatoren der Demonstration, gegenüber jW. Die Alternative dazu sei ein »Gottesstaat«. Vor einem Jahr hätten sich »alle« Menschen an den Demonstrationen für Reformen beteiligt, »aber als wir gesehen haben, daß Islamismus und Salafismus von außen unterstützt und unsere Forderungen in den Hintergrund gedrängt wurden, konnten wir nicht mehr auf die Straße gehen«. Statt dessen hätten »Terroristen« die Szenerie besetzt. Deshalb setze man jetzt auf das Reformprogramm Assads zum Aufbau einer Demokratie, »auch wenn es langsamer vorangeht, als wir es uns erhofft haben«. Syrien sei heute zwar noch kein demokratischer Mehrparteienstaat, »aber wir sind auf dem Weg dorthin«.

Erschienen am 14. Mai 2012 in der Tageszeitung junge Welt