Frühling auf dem Buchmarkt

Seit fast einem Jahr jagt in der arabischen Welt eine »Revolution« die nächste, und in Buchläden beginnen sich die Bände darüber zu stapeln. In derzeit mehr als einem Dutzend Neuerscheinungen versuchen Autoren jeder Couleur mehr oder weniger gelungen, eine Bilanz zu ziehen, obwohl die Prozesse noch nicht abgeschlossen sind und mancherorts der »arabische Frühling« längst einem Herbst oder Winter gewichen ist.

Die ersten, die sich zwischen Buchdeckeln verewigt haben, waren Fernseh- und Zeitungsjournalisten, die ihre von den dramatischen Ereignissen in Tunesien und vor allem Ägypten geprägten Berichte recycelten. So dokumentiert Karim El-Gawhary, der unter anderem für die taz aus Tunesien, Ägypten und Libyen berichtete, in seinem Band »Tagebuch der arabischen Revolution« im wesentlichen seine Artikel, gegebenen Rundfunkinterviews und Internet-Blogeinträge, unterbrochen nur von Zwischentexten, die kurz die Situation in dem jeweiligen Augenblick in Erinnerung rufen. Das läßt die Dramatik der Ereignisse im Frühjahr 2011 noch einmal Gestalt annehmen, kann jedoch keine für längere Fristen gültige Analyse bieten. Das ist El-Gawhary auch selbst klar, wenn er einleitend schreibt, daß sein Buch »etwas Neues« versuche: »mit aus dem Moment geschriebenen und gesprochenen Beiträgen eine Unmittelbarkeit herzustellen und den Leser auf eine ungestüme, ungewöhnliche revolutionäre Abenteuerreise mitzunehmen. (…) Dies ist keine Analyse, keine Nacherzählung oder Aufzählung der Ereignisse, die die arabische Welt praktisch über Nacht umwälzten. (…) Es sind Nahaufnahmen aus der Revolution: Denn hier geht es nicht um die arabische Revolution als Studienobjekt, es geht um die zahllosen Menschen, die sie getragen haben, ihre persönlichen Motive und ihre Träume.«

Erdölinteressen

Über Tunesien und Ägypten gelingt es El-Gawhary so tatsächlich, eine spannend zu lesende Chronik der Ereignisse anzubieten. Demgegenüber hinterläßt das Kapitel über Libyen, in das der Journalist kurz nach Beginn des Aufstands im Osten des Landes gereist war, in mehrfacher Hinsicht einen schalen Nachgeschmack. Hatten die Ereignisse in Tunesien und Ägypten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buchs mit dem Sturz der dortigen Regimes eine bestimmte Entwicklungsetappe abgeschlossen, befand (und befindet) sich Libyen noch mitten im Bürgerkrieg. Der Versuch, das militärische »Eingreifen« der NATO auf seiten der Aufständischen in Libyen im Rahmen solcher »Nahaufnahmen« zu erklären, kann nur schwer gelingen – El-Gawhary mißglückt es: »Tatsache ist, daß man international in den Libyen-Einsatz regelrecht hineingestolpert ist. Es gab keinen verschwörerischen Masterplan zum Schutz der Erdölinteressen. Derartige Theorien ignorieren, daß der Westen nicht agiert hat, sondern auf etwas völlig Neues reagiert hat: eine einheimische arabische Aufstandsbewegung, die erstmals die Dinge in die eigene Hand genommen hat.«

Mittlerweile mußte von der NATO und ihren Verbündeten in der Region, wie etwa dem auch nicht gerade demokratisch legitimierten Regime in Katar, eingeräumt werden, daß das krampfhaft hochgehaltene Bühnenbild eines »humanitären Einsatzes zum Schutz der Zivilbevölkerung« eben nichts anderes war als ein Vorwand zur Legitimation der Aggression. Hunderte Soldaten aus Katar kämpften an der Seite der libyschen Ghaddafi-Gegner, die NATO bombardierte gezielt die Infrastruktur des Landes und erklärte Wohngebäude und die Studios des staatlichen Fernsehens zu »Bedrohungen für die Zivilbevölkerung« und damit legitimen Angriffszielen. Am 31.Oktober meldete auch der friedensbewegten Ambitionen völlig unverdächtige Focus unter Berufung auf die französische Satirewochenzeitung Canard Enchaîné, daß Paris und Washington von vornherein den Tod des libyschen Staatschefs Ghaddafi angestrebt hätten und nicht etwa ein Gerichtsverfahren. So sollen sich am Tatort in Sirte 50 französische Elitesoldaten aufgehalten haben, als Ghaddafi gefaßt wurde, die auch den Lynchmord nicht verhinderten. Der Focus zitierte dazu einen namentlich nicht genannten französischen Diplomaten: »Die Alliierten haben mehrfach versucht, Ghaddafi zu liquidieren. Wenn er dann auf der Flucht stirbt und dies manchen Staaten entgegenkommt, bewegt sich das doch im Rahmen des Normalen.«

Bürgerkrieg

Während El-Gawharys Chronik der Ereignisse in Libyen Anfang April abbricht, hat Fritz Edlinger in dem von ihm herausgegebenen Buch »Libyen – Hintergründe, Analysen, Berichte« den Vorteil, den Verlauf des Krieges bis zum Einmarsch der Rebellen in der Hauptstadt Tripolis am 22.August verfolgt zu haben. Obwohl die verschiedenen Autoren, deren Texte Edlinger in dem Band zusammenführen konnte, durchaus unterschiedliche Einschätzungen zu den jüngsten Ereignissen darlegen, kristallisiert sich doch eine Sichtweise heraus, die sich deutlich von den Kommentaren El-Gawharys abhebt. So kommt jW-Autor Gerd Bed­szent in seinem Beitrag »42 Jahre Volks-Dschamahirija« zu der Schlußfolgerung: »Der blutige, partielle Zusammenbruch des Ghaddafi-Regimes entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Krieg um das Öl im Land. Es ist kein Zufall, daß die westlichen Demokratien sehr schnell in den libyschen Bürgerkrieg eingriffen, bei den Umstürzen in Tunesien und Ägypten wurde dies nicht einmal im Ansatz erwogen.«

Der Band hebt sich von den zahlreichen Schnellschüssen auf dem Buchmarkt wohltuend dadurch ab, daß er gar nicht erst versucht, eine mehr oder weniger komplette Chronik der jüngsten Ereignisse zu bieten. Statt dessen gibt es weitgehend unaufgeregte Analysen zu den verschiedenen Aspekten, die eine Bewertung des NATO-Krieges und der »Revolution« in Libyen voraussetzt. So stehen soziologische Analysen wie die von Konrad Schliephake angebotene Betrachtung von »Demographie und Arbeitsmarkt im Rentier-Staat« oder Thomas Hüskens Untersuchung der gesellschaftlichen Zusammenhänge im Osten Libyens (»Politische Kultur und die Revolution in der Kyrenaika«) etwa neben dezidiert politischen Texten wie »Deutschland schießt nicht mit« von Peter Strutynski, einem der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, oder wie »Die Medien im Krieg gegen Libyen« der auch jW-Lesern wohlbekannten Karin Leukefeld. Hinzu kommen Untersuchungen über die Rolle der Tuareg und der Berber, über die Entstehungsgeschichte des Landes (»Libyen, Tochter der UNO«) und andere Beiträge sowie einige Dokumente. Unabhängig von den weiteren Entwicklungen in Libyen dürfte dieses Buch auch in einigen Monaten noch wertvolle Informationen liefern – und das ist eine ziemliche Leistung in diesem Moment.

Kühle Analyse

Ein anderes Herangehen hat Hamed Abdel-Samad gewählt. Der bei Kairo geborene Politikwissenschaftler, der einem deutschen Fernsehpublikum unter anderem durch die eklige Sendereihe »Entweder Broder« bekannt geworden ist, analysiert vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen auf dem Tahrir-Platz die Auswirkungen des »arabischen Frühlings« auf die Innenpolitik Ägyptens und die Gesamtlage in der Region. Dabei gelingt es ihm, sich von der ursprünglichen Euphorie zu lösen und als verhältnismäßig kühler Analytiker Chancen und Gefahren der Situation zu erörtern. Das gilt insbesondere für sein Kapitel »Der Weg nach Gaza führt über den Tahrir-Platz«, in dem er unter anderem die Reaktionen der israelischen Regierung auf die Bewegung in Ägypten auseinandernimmt: »Während Demonstranten auf dem Tahrir-Platz ihre Opfer zählten und Vermißte suchten, kam die Nachricht, der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu würde in Europa und den USA dafür werben, Mubarak gegen die Freiheitsbewegung zu unterstützen, da er ein zuverlässiger Partner im Friedensprozeß sei. (…) Der israelische Premier konnte oder wollte nicht begreifen, daß Mubarak und die anderen Diktatoren nicht ewig künstlich beatmet werden können und daß für die Demonstranten am Tahrir-Platz Jerusalem nicht der Nabel der Welt ist.« Ebenfalls kenntnisreich und umfassend stellt Hamed Abdel-Samad in einem weiteren Kapitel auch die Rolle der Muslimbruderschaft vor, deren Entwicklung seit der Entstehung 1928 er beleuchtet und die er als kurzzeitige Gewinnerin des Sturzes von Mubarak ausmacht, obwohl sie »zu wenig« zu der »Revolution« beigetragen habe: »Seit ihrer Gründung war die Rhetorik der Muslimbruderschaft darauf ausgerichtet, die Massen in Ägypten für eine Veränderung des politischen Systems zu gewinnen. Schritte in diese Richtung hat die Muslimbruderschaft aber kaum unternommen. Im Gegenteil, die Gruppe agierte fast immer staatstragend. Sie ließ kaum eine Gelegenheit aus, den Machthabern ihre Loyalität kundzutun, oft auch gegen die Interessen der Bevölkerung.« Ihm gelingt damit eine der wenigen umfangreichen Analysen der ägyptischen Entwicklungen, die derzeit in deutscher Sprache verfügbar sind.

  • Karim El-Gawhary: Tagebuch der arabischen Revolution. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2011, 237 Seiten, 22 Euro
  • Fritz Edlinger (Hg.): Libyen – Hintergründe, Analysen, Berichte. Verlag Promedia, Wien 2011, 207 Seiten, 15,90 Euro
  • Hamed Abdel-Samad: Krieg oder Frieden. Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens. Droemer Verlag, München 2011, 237 Seiten, 18,00 Euro

Erschienen am 12. November 2011 in der Beilage „literatur“ der Tageszeitung junge Welt