junge Welt, 3. September 2013

»Freund« hört mit

junge Welt, 3. September 2013Der US-Geheimdienst NSA verfügt über eine komplette Abteilung, deren einzige Aufgabe die Überwachung der Außenpolitik und der Wirtschaftsaktivitäten europäischer Staaten wie Frankreich, Spanien und Deutschland ist. Das berichtete am Montag der brasilianische Fernsehsender TV Globo unter Berufung auf Dokumente des Whistleblowers Edward Snowden. »Bei Diskussionen um Handelsfragen zu wissen, was die anderen denken, ist dasselbe wie beim Poker das Blatt des Gegenüber zu kennen«, erläuterte der NSA-Experte James Brandford im Gespräch mit den Journalisten Glenn Greenwald und Sonia Bridi. So habe die NSA vor dem weiteren wirtschaftlichen Aufstieg Brasiliens und der Türkei gewarnt, da dieser die umliegenden Regionen destabilisieren werde. Noch in der vergangenen Woche hatte Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen im Handelsblatt abgewiegelt, die NSA betreibe keine Wirtschaftsspionage in Deutschland.

 

Für größere Aufregung als die Bespitzelung der Bundesrepublik sorgen in Südamerika jedoch andere Enthüllungen der Journalisten. In ihrem elfminütigen Beitrag im Rahmen der Sendung »Fantástico« präsentierten diese interne Dokumente der NSA, aus denen hervorgeht, wie der Geheimdienst in Brasilien und Mexiko praktisch alle Telekommunikationsverbindungen überwachen kann, darunter auch Handygespräche und E-Mails der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff und des mexikanischen Staatschefs Enrique Peña Nieto. Sowohl die Kontakte der beiden Staatschefs als auch die Äußerungen all ihrer Berater seien gespeichert und analysiert worden, berichtete Brandford. Dazu hätten die USA unter anderem in ihrer Botschaft in Brasilia und im Konsulat in Rio de Janeiro Antennen installiert, die als Abhöranlagen dienen. Zum Beweis präsentierten Greenwald und Bridi eine SMS Peña Nietos, in der dieser über bevorstehende Ministernominierungen informierte.

Neben anderen Programmen habe die NSA »DNI selectors« eingesetzt, durch das »alles, was ein User im Internet macht«, mitverfolgt werden könne. So bekomme die NSA Einblick in die Inhalte der E-Mails und wisse genau, welche Internetseiten die Objekte der Spionage besuchten. Ausdrücklich würden in den Geheimdokumenten Erfolge gefeiert, so sei klar, »daß es sich nicht um noch umzusetzende Pläne, sondern um realisierte Realitäten handelt«, kommentierte Greenwald.

Die brasilianische Regierung verurteilte die Überwachung ihrer Kommunikationsverbindungen umgehend als schwere Verletzung der nationalen Souveränität. Man werde von Washington eine Erklärung verlangen, kündigte Justizminister Eduardo Cardozo am Montag an. Präsidentin Rousseff berief eine Sondersitzung ihres Kabinetts ein.

Der in Brasilien lebende Brite Greenwald war der Kontaktmann Edward Snowdens und hatte die ersten Interviews mit diesem veröffentlicht. Der von dem Whistleblower darin offengelegte Umfang der weltweiten Spitzeltätigkeit der US-Geheimdienste hatte einen internationalen Skandal ausgelöst. Als TV Globo den US-Botschafter in Brasilia, Thomas A. Shannon – früher für die westliche Hemisphäre zuständiger Vizeaußenminister in Washington –, im Juli mit den Dokumenten Snowdens konfrontierte, stritt dieser noch ab, daß die USA die Inhalte von Gesprächen und E-Mails analysieren würden. Man habe in Brasilien lediglich »Metadaten« erfaßt.

Erschienen am 3. September 2013 in der Tageszeitung junge Welt