»Fora Temer!«

In Brasilien sind in der Nacht zum Donnerstag Tausende Menschen gegen den »parlamentarischen Staatsstreich« in ihrem Land auf die Straße gegangen. In zahlreichen Städten demonstrierten sie gegen die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff. In São Paulo ging die Militärpolizei mit Tränengasgranaten gegen die Menge vor.

Zuvor hatte eine Mehrheit von 61 gegen 20 Senatoren im Oberhaus des brasilianischen Parlaments den Sturz der 2014 mit den Stimmen von 54 Millionen Brasilianern gewählten Präsidentin beschlossen. Ihr bisheriger Stellvertreter Michel Temer wurde zum neuen Staatschef des südamerikanischen Landes erklärt. Seine Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB) hatte die Koalition mit Rousseffs Arbeiterpartei (PT) im März platzen lassen und sich auf die Seite der Rechten gestellt, die durch den Sturz der Präsidentin das Ergebnis der Wahl von 2014 umkehrten. Rousseff sprach anschließend davon, sie sei zum zweiten Mal in ihrem Leben das Opfer eines Staatsstreichs geworden: »Der erste, der von Repression und Folter begleitete Militärputsch (1964), traf mich, als ich eine junge Aktivistin war. Der zweite, der parlamentarische Putsch, der heute mittels einer juristischen Farce durchgeführt wurde, stürzte mich aus dem Amt, in das ich durch das Volk gewählt wurde.«

Der Verteidiger der gestürzten Präsidentin will vor dem Obersten Gerichtshof Einspruch gegen die Entscheidung des Senats einlegen. Mit einem Erfolg rechnet José Eduardo Cardozo, der bis März Rousseffs Justizminister war, offenbar selbst nicht. »Ich weiß, dass einige Richter eine traditionellere Sichtweise haben, nach der ein Absetzungsprozess nicht überprüft werden darf.« Die meisten Unterstützer Rousseffs setzen ohnehin darauf, die Protestaktionen fortzusetzen. »Wir werden weiter Widerstand leisten, die Straßen besetzen und aus voller Kraft rufen: Fora Temer! Temer raus!« kündigte der Präsident des Gewerkschaftsbundes CTB, Adilso Araújo, an.

Zahlreiche Regierungen Lateinamerikas teilen die Einschätzung der gestürzten Präsidentin, dass ihre Absetzung einen Putsch darstellt. Caracas, Quito und La Paz brachen die diplomatischen Beziehungen zum neuen Regime ab. Ecuadors Präsident Rafael Correa fühlte sich »an die dunkelsten Stunden unseres Amerikas« erinnert. »Wer kämpft, wird siegen«, twitterte Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro. Die kubanische Regierung erklärte in einem offiziellen Kommuniqué: »Die Ereignisse in Brasilien sind ein weiterer Ausdruck der Offensive des Imperialismus und der Oligarchie gegen die revolutionären und fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas und der Karibik, die den Frieden und die Stabilität der Nationen in Gefahr bringt.«

In Deutschland forderte der Vizechef der Linkspartei, Tobias Pflüger, die Bundesregierung auf, die Amtsenthebung Rousseffs nicht anzuerkennen: »Das Impeachment-Verfahren gegen Dilma Rousseff ist ein kalter Putsch, der zwischen Teilen der parlamentarischen Opposition, der Justiz und der Medien koordiniert wurde. Die Rousseff zur Last gelegten Vorwürfe der Beschönigung von Haushaltszahlen dienten der putschenden Opposition als Vorwand, die im Jahr 2014 demokratisch gewählte Präsidentin aus dem Amt zu drängen. Strafbare Korruption kann ihr nicht nachgewiesen werden, Korruptionsbekämpfung stand auf ihrer politischen Agenda. Und pikanterweise sind insbesondere ihre politischen Widersacher in Schmiergeldaffären und Filz verstrickt und möchten nun ihre Köpfe aus der Schlinge ziehen.«

Erschienen am 2. September 2016 in der Tageszeitung junge Welt