Für das Leben der Gefangenen

„Ich lehne es ab, die Gefangenen gewaltsam zu befreien, denn das wäre das Todesurteil für die Geiseln“. Gustavo Moncay, ein 55 Jahre alter Lehrer aus Sandoná, einem Örtchen im Südwesten Kolumbiens, weiss, wovon er spricht. Seit zehn Jahren bangt er um das Leben seines ältesten Sohnes Pablo Emilio.

Am 21. Dezember 1997 wurde die Einheit des kolumbianischen Heeres, in der Pablo Emilio Moncayo als Unteroffizier Dienst tat, von Guerrilleros der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (FARC) angegriffen. Bei dem Gefecht starben 10 Soldaten, vier wurden verletzt und 18 von den Guerrillos als Gefangene in den Urwald mitgenommen. Einer dieser Gefangenen war der damals 19 Jahre alte Pablo Emilio. Bis heute ist er in der Gewalt der Guerrilla.


In all den Jahren hat sein Vater die Hoffnung auf eine Heimkehr seines Sohns nie aufgegeben. Der stolze Vater von vier Töchtern und einem Sohn, wie er selbst betont, hat in den vergangenen zehn Jahren alles unternommen, um die Freilassung von Pablo Emilio und der anderen Gefangenen der Guerrilla zu erreichen.

Vor zwei Jahren ließ er sich Ketten anlegen, die er erst dann ablegen will, wenn sein Sohn aus der Gefangenschaft freigelassen sein wird. Und am 17. Juni dieses Jahres begab er sich auf den 1000 Kilometer langen Fußmarsch von seinem Dorf in die Hauptstadt Bogotá. 46 Tage dauerte sein Fußmarsch, während dem er die Unterstützung ganzer Dorfgemeinschaften erfuhr. Manche Menschen schlossen sich ihm ein Stück seines Weges an, andere brachten ihm Verpflegung und andere Hilfe. Nach anderthalb Monaten erreichte den Regierungssitz von Präsident Álvaro Uribe. Dieser jedoch, der ihn erst nach langem Zögern empfangen hatte, beharrte auch gegenüber Moncayo darauf, den „Terroristen“ keine Zugeständnisse machen zu wollen.

„Wir sind der Gewalt müde, wir sind es leid zu sehen, wie die Leute aus dem Volk, die Bauern, weiter einen traurigen Tod in diesem Krieg sterben,“ sagte Moncayo vor wenigen Tagen im Gespräch mit junge Welt. „Ich will ein humanitäres Abkommen, damit es eine politische Verhandlungslösung des Konflikts gibt.“

Gemeinsam mit seiner heute 21 Jahre alten jüngsten Tochter Yury Tatiana ist Gustavo Moncayo nach Abschluß seines langen Fußmarsches und einem wochenlangen Campieren in Bogotá nun sogar nach Europa aufgebrochen, um hier „an Türen zu klopfen“, wie er es nennt. Er wurde vom Papst empfangen und führte Gespräche mit Abgeordneten des Europaparlaments, Politikern und Journalisten. Er traf sich mit in Europa lebenden Kolumbianern und bat sie darum, ebenfalls Druck auszuüben, damit die Vermittlungsbemühungen von des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Erfolg haben und es zu einem Gefangenenaustausch kommt. „Dafür gibt es keine Alternative“, erläutert er, „der Versuch einer gewaltsamen Befreiung wäre das Todesurteil für die Gefangenen“. So sei die Regierung mitverantwortlich für den Tod von 22 Gefangenen, die in diesem Jahr während eines Zusammenstoßes zwischen einer Guerrilla-Einheit und Regierungstruppen ums Leben gekommen waren.

Begleitet wurde Gustavo Moncayo auf seinem langen Fußmarsch von seiner jüngsten Tochter Yury Tatiana. Die heute 21 Jahre junge Frau kann sich noch gut an ihren Bruder erinnern, den sie im Alter von elf Jahren zum letzten Mal sah: „Für mich als Kind war mein Bruder jemand, der immer Licht ins Haus gebracht hat, der immer versucht hat, uns ein Lachen zu entlocken, wenn wir Schwierigkeiten hatten oder traurig waren.“ Nicht nur ihr Bruder, sondern „alle Entführten leiden, denn sie können nicht als Menschen leben, sie können kein normales Leben leben, nicht studieren, nicht arbeiten, keine Ziele haben, sie können sich nicht verlieben.“ Ihr Bruder habe bereits jetzt einen Großteil seines Lebens und seiner Jugend verloren. Sie zeigt uns einen Brief ihres Bruders, eines der Lebenszeichen, die die Familie von Zeit zu Zeit bekommt. „Von hier aus möchte ich mit dem stärksten Schweigen schreien, das sich in mir angesammelt hat“, heißt es in dem Brief, den Vater Gustavo zu einem Geburtstag erhielt.

Erschienen in der Tageszeitung junge Welt vom 8. November 2007