Exxon zündelt

Es ist ein Erbe des Kolonialismus: Seit mehr als 100 Jahren streiten sich Venezuela und Guyana um ein knapp 160.000 Quadratkilometer großes Gebiet westlich des Flusses Essequibo. Bis heute stellen sämtliche in Venezuela herausgegebenen Landkarten das Territorium als Teil des eigenen Landes dar – schraffiert gekennzeichnet als »beanspruchte Zone«. Für Georgetown ist »Guayana Esequiba«, wie das gut die Hälfte des heutigen Staatsgebietes ausmachende Territorium auf Spanisch heißt, dagegen integraler Bestandteil des eigenen Landes.

Trotzdem hatten sich die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarstaaten in den vergangenen Jahren stetig verbessert. Die linken Regierungen von Hugo Chávez in Venezuela und Bharrat Jagdeo in Guyana hatten einen pragmatischen Umgang mit dem umstrittenen Gebiet gefunden. Keine der beiden Seiten verzichtete auf die eigenen Ansprüche, unternahm aber auch kaum Vorstöße zur Änderung des Status quo. Erst ab 2011, als Jagdeo die Regierung an seinen Parteifreund Donald Ramotar abgab, mehrten sich die diplomatischen Scharmützel zwischen beiden Seiten. Seit die Progressive Volkspartei (PPP) jedoch am 11. Mai die allgemeinen Wahlen knapp gegen eine Allianz bürgerlicher Oppositionsparteien verloren hat, verschlechtern sich die Beziehungen zusehends. Am 16. Mai übernahm der Exmilitär David Granger das Präsidentenamt – und nur vier Tage später meldete der US-Multi Exxon offiziell, dass man vor der Küste Guyanas große Erdölvorkommen entdeckt habe. Die Gewässer, in denen der Konzern fündig wurde, gehören zu dem strittigen Territorium. Prompt wandte sich Venezuelas Außenministerin Delcy Rodríguez an Exxon und forderte einen sofortigen Stopp der Bohrungen. »Solange es keine Entscheidung über unser Territorium gibt, dürfen sie dessen Gewässer nicht nutzen«, unterstrich sie. Präsident Nicolás Maduro warf dem Konzern in einem Interview mit dem Fernsehsender TeleSur vor, eine Kampagne zur Destabilisierung Venezuelas zu führen.

Caracas hat die Vereinten Nationen um Vermittlung gebeten. Schon Mitte der 80er Jahre hatten beide Seiten die UNO eingeschaltet, doch Sondervermittler Norman Girvan blieb erfolglos. Nun will UN-Generalsekretär Ban Ki Moon offenbar eine internationale Kommission bilden, die beide Länder bereisen soll. Außerdem hoffe man auf ein Treffen von Maduro und Granger am Rande der UN-Vollversammlung im September, hieß es in New York.

Die Ursprünge des Konflikts reichen zurück bis 1777, als Spanien und die Niederlande den Essequibo als Grenze ihrer Kolonien in Südamerika festlegten. Als Simón Bolívar 1819 nach der Unabhängigkeit von Spanien »Großkolumbien« gründete, zählte das Gebiet westlich des Grenzflusses zu dessen Territorium. Doch die Engländer, die 1814 die holländischen Besitzungen übernommen und zu British Guayana vereint hatten, errichteten auf der Westseite des Flusses Siedlungen und Stützpunkte. Das gerade unabhängig gewordene und von Bürgerkriegen zerrüttete Venezuela konnte sich dagegen nicht wehren.

1899 wurden in einem Schiedsverfahren die britischen Ansprüche auf das Gebiet bestätigt. Tatsächlich jedoch war Venezuela bei den Verhandlungen in Paris nicht direkt vertreten. Auf Druck der Engländer hatte Caracas akzeptieren müssen, dass seine Sache von US-Diplomaten vertreten wurde. Prompt konnten sich die Briten in nahezu allen Punkten durchsetzen und bekamen die Herrschaft über das Territorium zwischen dem Essequibo und dem Río Amacuro zugesprochen. Venezuela protestierte zwar gegen die Entscheidung, hatte aber keine Handhabe gegen die europäischen Imperialisten. Eine militärische Auseinandersetzung hätte das ausgeblutete Land sicher verloren.

Erst 1962 reklamierte Venezuela offiziell bei den Vereinten Nationen seine Ansprüche auf »Guayana Esequiba«. Kurz vor der Unabhängigkeit Guyanas im Mai 1966 unterzeichneten Caracas und London ein bis heute gültiges Abkommen, das die Entscheidung von 1899 de facto für null und nichtig erklärt. Die venezolanischen Ansprüche sollten in Verhandlungen geklärt werden, bis dahin behalte Guyana die Kontrolle über das Gebiet. Eine Lösung steht weiter aus.

Erschienen am 3. August 2015 in der Tageszeitung junge Welt