junge Welt, 24. Oktober 2013

Europa versteckt sich

junge Welt, 24. Oktober 2013Hunderte Menschen haben am Dienstag abend in Hamburg gegen die zynische Flüchtlingspolitik des Hamburger Senats und der Bundesregierung protestiert. Wie der NDR berichtete, blockierten rund 500 Menschen im Stadtteil Lokstedt eine Kreuzung vor der noblen Seniorenresidenz »New Living Home«, in der Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) gerade eine »Bürgersprechstunde« veranstaltete. Auch drinnen kam es zu Tumulten. Immer wieder wurde Scholz mit Zwischenrufen unterbrochen, schließlich stürmten zwei »Femen«-Aktivistinnen mit nacktem Oberkörper die Bühne, um »Stoppt Rassismus« zu fordern.

 

Seit Monaten demonstrieren in Hamburg libysche Kriegsflüchtlinge für einen sicheren Aufenthaltsstatus. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Statt dessen kontrolliert die Hamburger Polizei gezielt dunkelhäutige Menschen (jW berichtete). »Die Ziele des SPD-Senats sind offensichtlich«, kommentierte das die Hamburger Linkspartei, »die Flüchtlinge sollen registriert und abgeschoben werden, die zivilgesellschaftliche Solidarität und Hilfe von Flüchtlingsinitiativen, Nordelbischer Kirche und der Bezirksversammlung Altona für die Flüchtlinge soll gebrochen werden.« Die SPD bestreitet das natürlich. »Die Menschen werden nicht aufgrund ihrer Hautfarbe kontrolliert, sondern wegen eines Straftatverdachts, nämlich des illegalen Aufenthalts«, erklärte der Fachsprecher Inneres der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Arno Münster.

Die Schutzsuchenden selbst hatten sich in der vergangenen Woche mit einem offenen Brief an den Senat gewandt: »Nicht wir, die Menschen der Gruppe ›Lampedusa in Hamburg‹, verstecken unsere Identität, sondern die europäischen Regierungen verstecken sich vor der Verantwortung, sich der Realität zu stellen.«

Daran wird sich auch bei dem heute in Brüssel beginnenden EU-Gipfel nichts ändern. Eine von mehreren Staaten geforderte Änderung der »Dublin-II-Verordnung« wird unter anderem an Berlin scheitern. Die 2003 verabschiedete Regelung bestimmt, daß für Asylanträge das Land zuständig ist, über das der Flüchtling in die EU eingereist ist. Für Deutschland ist das bequem, denn die vor den Kriegen in Libyen, Syrien und Mali Fliehenden stranden so zumeist in Italien, Malta oder Griechenland. Dort sind die Unterkünfte längst überfüllt, es herrschen menschenunwürdige Zustände. Hinzu kommen rassistische Übergriffe etwa durch die Schlägertrupps der griechischen Neonazipartei »Goldene Morgendämmerung«. Auch in der Nacht zum Dienstag mußte die italienische Küstenwache wieder Flüchtlinge aus Seenot retten. Die geschäftsführende Bundesregierung teilte indes pflichtschuldig mit, sie sei über die Katastrophen wie vor der Mittelmeerinsel Lampedusa »bestürzt«. Die grundsätzlichen Regelungen zum Asylsystem stünden bei dem EU-Gipfeltreffen aber »nicht auf der Tagesordnung«, zitierte dpa am Mittwoch aus Regierungskreisen. Immerhin habe man ja bereits die Aufnahme von 5000 Syrern zugesagt. Zum Vergleich: Allein in der Türkei halten sich derzeit Regierungsangaben zufolge mehr als 600000 syrische Flüchtlinge auf.

Der insgeheim offenbar schon mitregierenden SPD hat es die Sprache verschlagen. Während Parteivorstandsmitglied Ralf Stegner am 14. Oktober noch die europäische Flüchtlingspolitik »in dramatischer Art und Weise auf die Tagesordnung gesetzt« sah, herrschte am Mittwoch Stille im Willy-Brandt-Haus. Die große Koalition wirft ihre Schatten voraus.

Erschienen am 24. Oktober 2013 in der Tageszeitung junge Welt