EU wartet auf die »Zeit nach Chávez«

Die einstigen Kolonialherren kommen als Bittsteller. Am Wochenende werden in Santiago de Chile hochrangige Vertreter aus rund 60 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) und der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC) zu ihrem ersten Gipfeltreffen zusammenkommen, unter ihnen Kubas Präsident Raúl Castro und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es ist eine Premiere, daß die im Dezember 2011 in Caracas gegründete CELAC, die alle Staaten des Kontinents außer Kanada und den USA umfaßt, als eigenständiger Akteur den Europäern gegenübertritt – und das durchaus selbstbewußt.

»Wir werden die wichtigsten Herausforderungen analysieren, denen sich die internationale Gemeinschaft gegenübersieht, und werden untersuchen, wie wir unsere Zusammenarbeit verstärken können«, ließ der Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, gewohnt unscharf verlauten. Konkret geht es um Investitionen »zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Technologietransfer, Innovationsanreize, Steuereinnahmen sowie die Unterstützung von Zulieferbetrieben«, zitierte die spanische EFE aus dem Entwurf für einen in Santiago zu beschließenden Aktionsplan. Chiles EU-Botschafter Carlos Appelgren kommentierte dies im Gespräch mit der Nachrichtenagentur: »Ein paar stabilere Spielregeln werden von Vorteil für Lateinamerika sein, das bereits ein gutes Beispiel für Bonität, Fiskaldisziplin, Wachstum und Institutionalität gibt«. Das sei vor zwanzig Jahren noch anders gewesen.

In Berlin hofft man allerdings, daß die Abwesenheit von Hugo Chávez in Santiago für ein weniger forsches Auftreten der Latinos sorgt. Für die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) prognostizierte Günther Maihold Anfang Januar bereits eine »Zeitenwende in Lateinamerika«, weil sich nach einem von ihm schon als sicher angenommenen Ausscheiden des venezolanischen Staatschefs »die politischen Gewichte bald deutlich verschieben« werden. Zwar erwartet Maihold keinen »baldigen Zusammenbruch« der venezolanischen Regierung, aber zumindest, »daß sich die von Chávez aufgebaute ideologische Konfrontation mit marktwirtschaftlichen Positionen und dem ›westlichen Imperialismus‹ abmildert«. Gut für Brasilien, Mexiko und die USA, so Maihold: »Brasilien profitiert nicht nur kurz-, sondern vor allem mittelfristig am meisten davon, daß das regionale Gewicht Venezuelas schwindet. (…) Daß Venezuela seine Anti-Status-quo-Rolle nicht wird bewahren können, eröffnet Mexiko und insbesondere den USA größere Handlungsspielräume, zumindest im karibischen Raum.«

Solche Thesen sind für Carolus Wimmer Ausdruck des Wechselspiels zwischen Konkurrenz und Koopera­tion der imperialistischen Blöcke USA und EU. Während sich Washington zunehmend auf den asiatisch-pazifischen Raum konzentriere und dabei auf China als Widersacher stoße, versuche die EU wieder Fuß in Lateinamerika zu fassen, analysierte der Abgeordnete des Lateinamerikanischen Parlaments (Parlatino), der auch internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas ist, vergangene Woche in der Tageszeitung Correo del Orinoco.

Auf einen Kurswechsel der Lateinamerikaner deutet derzeit jedenfalls wenig hin. Nachdem sie ihre europäischen Gäste verabschiedet haben, werden sich die Staats- und Regierungschefs der CELAC am Montag in Santiago zu ihrem ersten offiziellen Gipfeltreffen seit der Gründung versammeln. Dann wird Kuba für ein Jahr die Präsidentschaft der CELAC von Chile übernehmen. Bereits am 7. Februar ist Havanna dann Schauplatz einer Konferenz der lateinamerikanischen Bildungsminister. »Die Zeiten haben sich geändert«, kommentierte dies Kubas Vizeaußenminister Abelardo Moreno am Donnerstag im Gespräch mit der Tageszeitung Granma: »Europa sollte verstehen, daß es, um seine Beziehungen mit Lateinamerika und der Karibik zu entwickeln, dies auf der Grundlage der Gleichheit, des Respekts und des gegenseitigen Nutzens tun muß.

Erschienen am 25. Januar 2013 in der Tageszeitung junge Welt