EU begeht Verbrechen

junge Welt, 22. April 2016Die EU-Staaten haben am Donnerstag in Luxemburg weiter darum geschachert, wie viele Menschen jedes Land im Rahmen das Abkommens mit der Türkei aufnehmen soll. Im März hatten Brüssel und Ankara vereinbart, alle »illegal« auf den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge in die Türkei abzuschieben. Im Gegenzug soll Ankara für jeden Deportierten eine andere Person in die EU schicken. Seit Anfang April waren das nach Informationen der Nachrichtenagentur AFP exakt 103 Syrer. Noch immer sind sich die EU-Staaten jedoch nicht einig, wie diese Menschen verteilt werden sollen. Die Bundesregierung bot am Donnerstag an, wöchentlich 100 Syrer aufzunehmen – bis zu einem »Deckel« von 1.600 Personen, wie Reuters schrieb. Diese Zahl wäre also nach vier Monaten erreicht.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärte am Rande des EU-Gipfeltreffens, das Abkommen mit der Türkei wirke, weniger Menschen kämen in Griechenland an. So kann man es auch formulieren. Wenige Stunden zuvor hatten die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Berichte bestätigt, nach denen in den vergangenen Tagen im Mittelmeer bis zu 500 Menschen ertranken, die von Ägypten und Libyen aus versucht hatten, Europa zu erreichen. Wie die beiden Organisationen nach Aussagen von Überlebenden mitteilten, seien rund 200 Menschen vom libyschen Tobruk aus in einem oder mehreren Booten aufgebrochen. »Nach einiger Zeit auf See sollten sie auf ein größeres Schiff umsteigen, auf dem bereits andere Menschen waren«, sagte ­UNHCR-Sprecherin Barbara Molinario der Deutschen Presse-Agentur. »Das andere Boot war jedoch völlig überfüllt und ist während des Umsteigens gekentert.« Vermutet wird, dass es sich bei diesem größeren Schiff um eines handelte, das mit 500 Menschen an Bord in Ägypten abgelegt und dessen »Verschwinden« am Montag zunächst der arabische Dienst der BBC gemeldet hatte.

Nach Angaben der IOM steigt damit die Zahl der Menschen, die seit Jahresbeginn auf der Flucht nach Europa über das Mittelmeer ihr Leben verloren haben, auf mehr als 1.232. Damit entspricht die Zahl nahezu dem Wert des Vorjahres. 2015 waren bis Ende April 1.733 Menschen ertrunken. Vor fast genau einem Jahr war der Tod von 800 Menschen, die beim Untergang eines Boots vor der libyschen Küste starben, Anlass für Krokodilstränen zahlreicher europäischer Politiker. De Maizière formulierte damals: »Die EU trägt daran keine Schuld, aber wir tragen Verantwortung für die Lösung dieser Themen.«

Ein Jahr später gibt es noch immer praktisch keine legalen Wege für Schutzsuchende in die EU. Die europäischen Staaten haben sich in den vergangenen Monaten noch mehr abgeriegelt als zuvor. In Deutschland brennen täglich Flüchtlingsunterkünfte. Die Türkei wird mit Milliarden Euro dafür belohnt, Flüchtlinge von der Weiterreise in die EU abzuhalten. Die Bundestagsabgeordnete Annette Groth (Die Linke) kommentierte das am Donnerstag: »Menschen in die Türkei abzuschieben, die Geflüchtete bekanntermaßen auch in Länder wie Afghanistan oder Syrien zurückschiebt und scharf auf Flüchtlinge schießt, ist ein Verbrechen.«

Der Bundesinnenminister dagegen will das mit Ankara erprobte Modell weiter ausdehnen. Entsprechende Abkommen gibt es bereits mit Marokko, Tunesien und Algerien. In der vergangenen Woche enthüllte zudem das ARD-Magazin »Monitor«, dass die EU Allianzen mit den Machthabern in Eritrea, Sudan, Äthiopien und Somalia vorbereitet (jW berichtete).

Erschienen am 22. April 2016 in der Tageszeitung junge Welt