Erinnerung an ein Massaker

Zwischen der Zentralmacht und der Drogenmafia tobt in Mexiko derzeit ein Krieg, dem bereits Tausende zum Opfer gefallen sind. Doch die täglichen Nachrichten von überfallenen Polizeistationen, Morden auf offener Straße und den immer gleichen Durchhalteparolen der Regierung in Mexiko-Stadt lenken auch davon ab, daß es hier nicht so einfach ist, »gut« und »böse« zu unterscheiden. Wer von den Verbrechen der Mafia spricht, darf auch vom Staatsterrorismus nicht schweigen. Dieser zeigte zum Beispiel am 22. Dezember 1997 sein Gesicht, als Paramilitärs in Acteal, einem Dorf in Chiapas, 45 wehrlose Menschen ermordeten. Die Opfer gehörten der pazifistischen Organisation »Las Abejas« an, die von der damaligen Staatspartei PRI und ihren bewaffneten Banden als Unterstützer der Zapatisten ausgemacht worden waren.

Den Opfern dieses Massakers widmet Hermann Bellinghausen sein Buch »Acteal – Ein Staatsverbrechen«, das als erster Band der »Studien zur globalen Gerechtigkeit« im vergangenen Oktober im Unrast-Verlag erschienen ist. Ein wichtiges Buch, um ein Verbrechen dem Vergessen zu entreißen, das heute ansonsten nicht nur vom Drogenkrieg, sondern auch von solchen Ereignissen wie den Aufständen in Oaxaca oder Atenco in den Hintergrund gedrängt werden würde. Es zeigt, daß Verbrechen keine Ausnahme von der mexikanischen Realität sind, sondern diese den eigentlichen Charakter des mexikanischen Staates ausmachen, der sich auch nach dem Regierungswechsel von PRI zur PAN nicht grundsätzlich geändert hat.

Bellinghausen skizziert in dem rund 120 Seiten starken Buch nicht nur das Verbrechen selbst, sondern auch die Ereignisse davor und danach und beleuchtet eine politische und gesellschaftliche Situation, die das Massaker von Acteal erst ermöglicht hat. Er zitiert viele Stimmen, vorzugsweise aus der von ihm mitbegründeten Tageszeitung La Jornada, die bereits vor dem Mord vor einer Eskalation der Gewalt warnten und anschließend auf Aufklärung drängten.

Leider wurde bei der Vorbereitung der deutschen Ausgabe zu wenig berücksichtigt, daß sich auch ein interessiertes Publikum hierzulande mehr als 13 Jahre später kaum an die damaligen Nachrichten erinnern dürfte. Zu viele Dinge sind in der Weltpolitik seither geschehen, sei es in Europa der Krieg gegen Jugoslawien, seien es in Lateinamerika die Entwicklungen seit dem Regierungsantritt von Hugo Chávez 1999 oder seien es die Anschläge vom 11. September 2001, die die USA als Rechtfertigung für eine ganze Reihe von Kriegen genommen haben. So ist die Feststellung Bellinghausens über die Reaktionen auf das Massaker sehr gewagt: »Die weltweiten Proteste sind die größten der Geschichte, vor den Antiglobalisierungsbewegungen.«

Die Lesefreundlichkeit des Bandes wird außerdem dadurch erheblich erschwert, daß die Übersetzerinnen und Übersetzer nicht darauf verzichten wollten, die »feministische« Schreibweise einzuführen. Ein Satz wie »Abgeordnete, Senator_innen, Bischöfe, internationale Beobachter_innen, Anwält_innen, Funktionär_innen und Journalist_innen hatten die Opfer persönlich gekannt« ist ein Ungetüm, das von der Aufnahme des Textinhalts ablenkt – und das dürfte weder im Interesse des Autoren noch der deutschen Herausgeber sein.

Hermann Bellinghausen: Acteal – Ein Staatsverbrechen. Unrast-Verlag, Münster 2010, 120 Seiten, 13 Euro

Erschienen am 14. Februar 2011 in der Tageszeitung junge Welt