Ende des Kirchnerismus

Argentinien steht vor einem Kurswechsel. Der Kandidat der konservativen Opposi­tion, Mauricio Macri, hat die zweite Runde der Präsidentschaftswahl in dem südamerikanischen Land gewonnen. Nach Auszählung fast aller Stimmen lag er mit 51,4 Prozent vor dem Vertreter der bislang regierenden »Front für den Sieg« (FpV), Daniel Scioli. Dieser kam auf 48,6 Prozent und lag damit weniger deutlich hinter dem Wahlsieger, als dies die letzten Umfragen prognostiziert hatten.

In seiner ersten Ansprache nach Bekanntwerden der Resultate machte Macri für den überraschend engen Ausgang der Abstimmung eine »Angstkampagne« seiner Gegner verantwortlich. Diese hatten davor gewarnt, dass die Rechte alle Errungenschaften der Regierung der scheidenden Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, die nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten durfte, zurückdrehen werde. Allerdings galt auch Sciolis Kurs vielen Linken nicht als eine echte Alternative zum knallharten Neoliberalismus Macris. Einige Organisationen riefen deshalb dazu auf, leere Stimmzettel abzugeben. Davor warnte der argentinische Journalist Atilio Borón in einem wenige Tage vor der Wahl veröffentlichten Artikel: »Ungültig wählen bedeutet, den Imperialismus zu wählen!«

Schon am Sonntag abend deutete sich in Buenos Aires der außenpolitische Kurswechsel an. Hatte Fernández die Nähe zu Caracas gesucht, begrüßte ihr Nachfolger Macri demonstrativ die Ehefrau des in Venezuela wegen gewaltsamer Ausschreitungen verurteilten und inhaftierten Oppositionspolitikers Leopoldo López, Lilian Tintori. Im Programm seiner Allianz »Cambiemos« wird verklausuliert davon gesprochen, die internationalen Beziehungen »ausgeglichener« zu gestalten, weil diese in den vergangenen Jahren durch »Geheimverträge« geprägt worden seien. Gemeint sein dürfte eine Annäherung an die USA und eine Abgrenzung von den links regierten Ländern Lateinamerikas.

Macri, der Sohn eines schwerreichen Unternehmers, wurde am Montag von der Nachrichtenagentur AFP treffend charakterisiert: »Schöne Frauen, schöne Autos, Urlaub im Badeort Punta del Este in Uruguay – dies gehört für die argentinische Oberschicht zum guten Ton, so auch bei Macri.« Die Armen des Landes, die bislang von der Sozialpolitik des Kirchnerismus profitieren konnten, haben von ihm nichts zu erwarten. Schon am Sonntag abend demonstrierten Linke auf der Plaza de Mayo im Zentrum von Buenos Aires gegen den bevorstehenden Kurswechsel. »Wir sind traurig und besorgt, aber wir sind hier zusammengekommen, um ihnen zu zeigen, dass wir Widerstand leisten werden«, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur Télam einen Teilnehmer.

Ein anderer befürchtet, dass das Land unter Macri in die Zeiten der Krise vor 2003 zurückgeworfen werde. »Es waren zwölf Jahre einer nationalen und Volksregierung, die mehr als drei Millionen Alten ihre Renten zurückgegeben hat und für Millionen Jugendliche Arbeitsplätze schaffte«, sagte er und erinnerte an die Nationalisierung des Erdölkonzerns YPF und den Wiederaufbau der staatlichen Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas.

Néstor Kirchner, der Ehemann und Amtsvorgänger von Cristina Fernández, hatte 2003 als Präsident ein wirtschaftlich und politisch zerrüttetes Land übernommen. Der Kurswechsel beinhaltete einen teilweisen Schuldenschnitt und die Freigabe der unter seinen Vorgängern eingefrorenen Sparguthaben. Mit Unterstützung Venezuelas wurden die Verbindlichkeiten Argentiniens beim Internationalen Währungsfonds vorfristig beglichen, um sich von den neoliberalen Programmen des IWF zu befreien. Vor allem aber suchte Kirchner die Nähe zu sozialen Bewegungen. Unter seiner Regierung begann die juristische Aufarbeitung der unter der argentinischen Militärdiktatur begangenen Verbrechen. 2007 verzichtete Kirchner auf eine erneute Kandidatur. Statt dessen trat Cristina Fernández an und gewann. Eine offenbar für 2011 vorgesehene Rückkehr Kirchners in das höchste Staatsamt wurde durch dessen Tod 2010 verhindert.

Erschienen am 24. November 2015 in der Tageszeitung junge Welt