Einmischung von außen

Zehntausende Regierungsanhänger haben am Donnerstag auf der Avenida Bolívar im Zentrum von Caracas sowie in zahlreichen weiteren Städten Venezuelas mit Großkundgebungen das Ende des Wahlkampfs gefeiert. Auch die auf der Bündnisliste »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) kandidierenden Regierungsgegner demonstrierten vor den Parlamentswahlen am Sonntag Stärke. Beide Seiten gaben sich siegessicher. Die Rechte baut auf eine Reihe von Umfragen, in denen sie nach Prozenten deutlich vor dem »Großen Patriotischen Pol« der sozialistischen Regierungspartei PSUV und ihrer Verbündeten liegen. Dagegen vertraut das Regierungslager darauf, dass die Menschen für den Erhalt der sozialen Errungenschaften des bolivarischen Prozesses stimmen werden.

Der Optimismus der Linken ist offenbar trotz der anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht unbegründet. Oscar Schemel, der einflussreiche, politisch eher der Opposition zuneigende Chef des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces, erklärte am Donnerstag gegenüber den ausländischen Wahlbeobachtern, dass es dem Regierungslager in den vergangenen zwei bis drei Monaten gelungen sei, den Vorsprung der Opposi­tion schrumpfen zu lassen. Sein Institut schließe einen Erfolg der PSUV bei den Wahlen am Sonntag nicht aus. Vor allem könnte den Linken nach seiner Ansicht ein Ergebnis von 41 bis 44 Prozent der Stimmen ausreichen, um erneut die Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung zu erringen. Sie könnten davon profitieren, dass nach venezolanischem Wahlrecht auch dünn besiedelte Bundesstaaten im Parlament vertreten sein müssen. Deshalb entsendet jede Region mindestens drei Repräsentanten in das Parlament. So sind im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl Staaten wie Amazonas, wo 160.000 Menschen leben, mit drei Abgeordneten stärker vertreten als etwa der 2,1 Millionen Einwohner zählende Hauptstadtdistrikt Caracas mit neun Abgeordneten. Das ist ein Nachteil für die Opposition, die fast ausschließlich in den Großstädten stark ist, nicht jedoch in den ländlich geprägten Regionen. Schon bei den vorherigen Parlamentswahlen 2010 konnte die PSUV deshalb die Mehrheit der Mandate erringen, obwohl sie nach Stimmen unter 50 Prozent geblieben war.

Bei den Sozialisten ist jedoch wachsende Nervosität zu spüren. So warnte am Mittwoch morgen die frühere Arbeitsministerin María Cristina Iglesias im privaten Fernsehsender Televen davor, sich eine Niederlage des Regierungslagers zu wünschen, weil die ein »heilsamer Schock« sein könnte. Eine solche Haltung sei gefährlich, auch wenn man mit bestimmten Erscheinungen unzufrieden sei. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro scheint ebenfalls nicht auszuschließen, dass die Opposition in der nächsten Nationalversammlung die Mehrheit stellen könnte. Das würde zwar nicht das Ende seiner Regierung bedeuten – in Venezuela wird das Staatsoberhaupt direkt gewählt –, aber er müsste seinen Kurs dann gegen die Nationalversammlung durchsetzen. Deshalb kündigte Maduro bereits an, er werde sich als »Präsident im Aufstand« verstehen, falls das künftige Parlament seine Vorhaben blockieren und zum Beispiel die für ein Projekt benötigten Finanzmittel nicht freigeben sollte. »Mit der Verfassung in der Hand werde ich zusammen mit dem Volk auf die Straße gehen. Ich werde nicht zulassen, dass euch die Mittel genommen werden«, erklärte Maduro.

In dieser Situation hat sich kurz vor den Wahlen die Einmischung aus dem Ausland verstärkt. Wie die rechte Tageszeitung El Nacional am Donnerstag berichtete, hat das Europäische Parlament »aufgrund von Sicherheitsbedenken« die Entsendung von Wahlbeobachtern nach Venezuela abgesagt. Diese Entscheidung seiner Kollegen kritisiert Javier Couso, der für Spa­niens Vereinigte Linke im Strasbourger Abgeordnetenhaus sitzt und auf Einladung des venezolanischen Nationalen Wahlrats (CNE) nach Caracas gereist ist. »Das war ein Vorwand«, sagte er im Gespräch mit junge Welt. Auch andere europäische Wahlbegleiter, wie sie in Venezuela offiziell genannt werden, fühlen sich von den Sicherheitskräften des Landes gut beschützt.

Das gilt auch für die Delegation der Union Südamerikanischer Nationen (Unasur), die mit einem großen Kontingent von Experten schon seit einigen Wochen den Wahlprozess beobachtet. Deren Mitglieder sind vor allem Spezialisten, die in ihren eigenen Ländern bei den dortigen Wahlbehörden beschäftigt sind und sich in der Materie auskennen. Geleitet wird die Abordnung vom früheren dominikanischen Präsidenten Leonel Fernández, der kein ausgewiesener Linker ist. Führende Sprecher der Opposi­tion attackierten die Unasur-Delegation und andere Wahlbegleiter dennoch als »Touristen« und forderten, eine Beobachtung und sogar eine parallele Stimmenauszählung durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die Europäische Union zuzulassen. Das wurde vom CNE abgelehnt, weil es den geltenden Gesetzen widersprechen würde. Zudem hatte sich vor allem die OAS in den vergangenen Wochen und Monaten wiederholt in die inneren Angelegenheiten Venezuelas eingemischt, so dass eine glaubwürdige Kommentierung der Abstimmung durch die in Washington beheimatete Organisa­tion nicht zu erwarten gewesen wäre. Trotzdem kündigte die oppositionelle MUD an, dass am Sonntag sieben frühere Staatschefs aus Lateinamerika das Land »besuchen« würden, obwohl sie nicht beim CNE akkreditiert worden seien. Parlamentspräsident Diosdado Cabello warnte deshalb am Mittwoch abend im staatlichen Fernsehsender VTV, dass die Opposition einen »parallelen Wahlrat« gebildet habe, um am Sonntag vorzeitig eigene »Ergebnisse« zu veröffentlichen und so Proteste zu provozieren, falls die realen Resultate nicht ihren Hoffnungen entsprechen.

Von Deutschland aus mischt sich die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in den Wahlkampf ein. In einem am 1. Dezember veröffentlichten »Länderbericht« wirft die mit Steuergeldern finanzierte Einrichtung der PSUV vor, ihre Wahlniederlage mit »unlauteren Tricks und einem ungerechten Wahlsystem« verhindern zu wollen. Zudem behauptet die KAS, es gebe »keine unabhängige internationale Wahlbeobachtung«. Selbst der ­COPEI, der traditionellen christsozialen Bruderpartei der CDU, wirft die KAS vor, sie habe sich von der Regierung »vereinnahmen« lassen. Einige ihrer Mitglieder waren gegen undemokratische Verfahren bei der parteiinternen Aufstellung der Kandidaten vorgegangen.

Erschienen am 5. Dezember 2015 in der Tageszeitung junge Welt