Eine „friedliche Revolution“

Überschattet von der schwersten Überschwemmungskatastrophe seit Jahrzehnten hat Venezuela am 15. Dezember einen weiteren Schritt im Prozeß der "friedlichen Revolution" vollzogen, den der Präsident Hugo Chávez nach seiner Wahl vor nunmehr etwas mehr als einem Jahr in Gang gesetzt hat.

Mehr als 71 Prozent der VenezolanerInnen stimmten bei einer Volksabstimmung für die Annahme einer neuen "Magna Charta", die in 100 Tagen von der im Sommer gewählten Asamblea Nacional Constituyente (ANC), der Verfassunggebenden Versammlung, ausgearbeitet worden war. Seit seiner Wahl zum Präsidenten Venezuelas Anfang Dezember 1998 mit rund 56 Prozent – bei der gleichzeitig die traditionell dominierenden sozialdemokratischen und christdemokratischen Parteien Acción Democrática und COPEI eine verheerende Wahlniederlage erlitten und nur noch auf 7,3 und 1,7 Prozent der Stimmen kamen – hat Hugo Chávez einen Prozess der radikalen Veränderung der staatlichen Institutionen in Gang gesetzt, den er sich bei jedem Schritt durch Abstimmungen und Wahlen absegnen läßt.

Am 25. April stimmten mehr als drei Viertel der WählerInnen bei der ersten Volksabstimmung in der Geschichte Venezuelas für die Einrichtung einer Verfassunggebenden Versammlung. Wenige Wochen später machte Chávez deutlich, dass seine leidenschaftlichen Äußerungen gegen Neoliberalismus und gegen die Einmischung der USA in Lateinamerika mehr als nur populäre Redensarten sind, als er den USA den venezolanischen Luftraum für ihre Aufklärungsflüge über den kolumbianischen Guerilla-Gebieten verweigerte.

Die von der ANC erarbeitete und von der überwältigenden Mehrheit in der Volksabstimmung angenommene neue Verfassung wird von BeobachterInnen als die modernste des Kontinents bezeichnet. Die ganze Verfassung durchzieht die Bezugnahme auf die Symbolfigur des Befreiers Simón Bolivar, dessen "Ideen" und "Internationalismus" ausdrücklich als "Inspiration" der neuen Verfassung genannt werden. Am deutlichsten sichtbarer Ausdruck der Verehrung Bolivars ist die neue offizielle Bezeichnung des Land: Bolivarianische Republik Venezuela.

Die Bestimmungen der neuen Verfassung riefen schon vor der Abstimmung wütende Proteste der nur 20 Prozent der VenezolanerInnen hervor, die nicht in Armut leben, während der Eindruck gewonnen werden kann, dass die 80 Prozent der in Armut oder gar extremer Armut lebenden Menschen beinahe geschlossen hinter der Politik Chávez´ stehen. Die Katholische Kirche wütete gegen die indirekte Aufhebung des Abtreibungsverbotes durch die Verankerung des Rechtes auf Leben ohne den vom Klerus geforderten Zusatz "von der Empfängnis bis zum Tode".

Weitgehende Sonderrechte spricht die neue Verfassung den UreinwohnerInnen des Landes zu, was Konservative zu der wütenden Kritik veranlaßte, damit werde "die nationale Einheit" und das "Prinzip der Gleichheit aller VenezolanerInnen" gefährdet. Ein Kritiker wütete, die Verfassunggebende Versammlung habe "54 Prozent des nationalen Territoriums einer Minderheit von 1,5 Prozent der Bevölkerung abgetreten". Verboten wurde eine Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft PDVSA, der Haupteinnahmequelle Venezuelas. Die Rolle des Präsidenten wurde gestärkt, die Wiederwahl zugelassen, so dass Hugo Chávez damit rechnen kann, mehr als ein Jahrzehnt an der Regierung bleiben zu können. Erhöht wurde die Stellung des Militärs, vielleicht nicht überraschend angesichts der Herkunft des Ex-Leutnants Chávez, der 1992 versucht hatte, sich mit der "Bolivarianischen Bewegung 2000""an der Spitze rebellischer Armee-Einheiten an die Macht zu putschen und dafür einige Jahre im Gefängnis saß, bevor er seinen legalen Weg an die Regierung begann. Der Unternehmerverband Fedecamáras bezeichnete das neue Grundgesetz als "katastrophal", Chávez antwortete, die Unternehmer seien "mit schuld am Niedergang" des Landes.

Unterstützung findet Präsident Chávez in Kuba und bei Fidel Castro, den Chávez zusammen mit Che Guevara als sein Vorbild bezeichnet. Symbolträchtig war das am Rande des Iberoamerikanischen Gipfels in Havanna von Fidel Castro und Hugo Chávez angeführte Freundschaftsspiel zwischen einer kubanischen und einer venezolanischen Baseball-Auswahl. Schon Anfang 1999, wenige Wochen nach dem Amtsantritt Chávez´, war Fidel Castro mit allen Ehren in Caracas empfangen worden. Während sich Hugo Chávez selbst als "weder Marxist noch Anti-Marxist" bezeichnet, meint Fidel Castro, Chávez sei "sicherlich ein Revolutionär, wenn auch kein marxistisch-leninistischer Revolutionär".

Weniger euphorisch sind verständlicherweise die USA. So grummelt die "New York Times", Chávez habe sich "fast diktatorische Vollmachten" ausstellen lassen und weist auf Schätzungen hin, dass seit dem Regierungsantritt Chávez´ Kapital in Höhe von rund vier Milliarden US-Dollar aus dem Land gezogen worden ist, Verluste, die Venezuela durch die höheren Erdölpreise ausgleichen konnte. Der US-Nachrichtensender CNN zitiert Befürchtungen, die Venezuela aufgrund der Freundschaft zwischen Fidel Castro und Hugo Chávez bereits als "neues Kuba" auffassen, und aus der US-Regierung ist schon zu hören, dass die Entwicklung in Venezuela "möglicherweise die US-Interessen beeinträchtigen" könnte, die diplomatische Umschreibung für eine Stinkwut im State-Department.

Erschienen in der Wochenzeitung "Unsere Zeit" vom 21. Januar 2000