Eine Alternative zu Bush

George Bush verlor keine Zeit. Während in Mittel- und Osteuropa der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten noch im Gange und die Sowjetunion noch nicht aufgelöst worden war, versammelte der damalige US-Präsident am 27. Juni 1990 zahlreiche Botschafter Lateinamerikas, der Karibik, Europas und Japans sowie hochrangige Mitglieder seiner Administration in Washington, um ihnen seine »Enterprise for the Americas Initiative« vorzustellen, die schnell als »Bush-Plan« oder »Bush-Initiative« bekannt wurde.

 

Ausgangspunkt der Darlegungen Bushs waren die dramatischen Ereignisse vor allem im Osten Europas, deren Zeitraum der US-Präsident mit »den vergangenen zwölf Monaten« umschrieb. In diese Zeit fielen unter anderem der Sturz der sozialistischen Regierungen in der DDR, der Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien, die Verabschiedung einer neuen Verfassung in Ungarn, die dort das Ende des Sozialismus und der Volksrepublik auch formell besiegelte, die zunehmenden Sezessionsbestrebungen in der Sowjetunion, die ersten »freien« Parlamentswahlen in Polen sowie natürlich der symbolträchtige Fall der Berliner Mauer. Heute können wir hinzufügen, daß diese Entwicklungen zum Zeitpunkt der Rede Bushs noch nicht abgeschlossen war. So existierte die DDR zumindest formell noch, und auch die Auflösung der Sowjetunion erfolgte erst mehr als ein Jahr später.

Für Bush waren jedoch nicht diese politischen Umbrüche Kern seines Vortrags, und er hielt sich nur kurz mit der Lob­preisung von »Freiheit« und »Demokratie« auf, die sich nicht nur in Osteuropa, sondern auch in Amerika »mit einer Ausnahme, Kuba, « durchgesetzt hätten. Dem US-Präsidenten ging es vielmehr um die ökonomische Sphäre, in der sich »parallele« Entwicklungen abspielten: »In der Region entfernen sich Nationen von der staatsökonomischen Politik, die Wachstum abwürgen, und schauen auf die Macht des freien Marktes, um dieser Hemisphäre zu helfen, ihr unberührtes Fortschrittspotential zu realisieren.«1 Es sei eine neue Führungsschicht entstanden, die erkannt habe, daß »die Zukunft Lateinamerikas in freier Regierung und freien Märkten« liege. Der lang andauernde Wettkampf zwischen Karl Marx und Adam Smith komme endlich an sein Ende, zitierte Bush in diesem Zusammenhang den zwischen 1986 und 1990 amtierenden kolumbianischen Staatschef Virgilio Barco.

Damit sah der US-Präsident den Zeitpunkt gekommen, einen weitgehenden Vorstoß zu unternehmen. Kernpunkt war das Ziel einer »Freihandelszone, die die gesamte Hemisphäre umfaßt«2. Dabei schränkte Bush jedoch ein, daß »einige Länder noch nicht bereit sind, diesen dramatischen Schritt eines vollständigen Freihandelsabkommens zu gehen«. Deshalb sei man bereit, »mit jeder interessierten Nation« Verhandlungen über bilaterale Rahmenabkommen aufzunehmen. »Dies ist eine Voraussetzung für größeres Wachstum und einen höheren Lebensstandard in Lateinamerika, und ­hier bei uns neue Märkte für amerikanische Produkte und mehr Jobs für amerikanische Arbeiter.«

Die ersten Reaktionen in den großen Zeitungen des Kontinents und darüber hinaus sowie in den Regierungskreisen waren durchaus positiv. So begrüßten die wenige Tage später zum G-7-Gipfeltreffen in Houston versammelten Staats- und Regierungschefs die Bush-Initiative. Sie werde »marktorientierte Politik in Lateinamerika und der Karibik unterstützen und ermutigen«3. Die Andengemeinschaft (CAN), der damals Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela angehörten, erklärte, die Initiative sei von »höchster Wichtigkeit«.4

Weniger euphorisch reagierte Carlos Gabetta in der spanischen Tageszeitung El País. Er stellte die von Bush in Aussicht gestellten Summen auf den Prüfstand: »300 Millionen Dollar jährlich für Investitionen (deren Hauptziel der Unterstützung von Privatisierungsmaßnahmen wäre) und eine Schuldensenkung im Umfang von zwölf Milliarden Dollar sind ganz klar ein Tropfen im Meer.«5 Die Gesamtauslandsschuld Lateinamerikas wurde 1991 auf 493 Milliarden US-Dollar beziffert und stieg bis 1999 auf über 812 Milliarden im Jahr 1999 an.6

Am schärfsten in Frage gestellt wurde die Bush-Initiative von der einzigen Regierung, die von Washington nicht eingeladen worden war. Der damalige kubanische Präsident Fidel Castro fand im Gespräch mit dem Comandante der Sandinisten Nicaraguas, Tomás Borge, deutliche Worte: »Die Bush-Initiative ist kein Versuch oder Faktor der lateinamerikanischen Integration, sondern der Versuch, Lateinamerika in die Wirtschaft der Vereinigten Staaten zu integrieren, denn als Konsequenz des Kampfes zwischen den großen Wirtschaftsmächten, der sich heute entwickelt, wollen die Vereinigten Staaten Lateinamerika mehr denn je als geschlossenes Revier für ihre Interessen betrachten.«7 Den von Bush als Entgegenkommen präsentierten Ansatz, bilateral mit den potentiellen Mitgliedsländern der amerikanischen Freihandelszone zu verhandeln, wertete Castro als Versuch Washingtons, ein gemeinsames Verhandeln der anderen Staaten des Kontinents zu verhindern, um diese so gegeneinander ausspielen zu können.

Unerwartete Wende

Zehn Jahre nach dem Vorstoß von George Bush hatten sich die Kräfteverhältnisse in Lateinamerika gründlich verändert. Hugo Chávez war nach seiner Wahl zum Präsidenten Venezuelas am 6. Dezember 1998 zur Stimme der ALCA-Kritiker geworden, erstmals beim dritten Amerika-Gipfel, der im April 2001 im kanadischen Quebec stattfand. »Chávez war das schwarze Schaf des Gipfels«, hieß es damals in latein- und nordamerikanischen Medien. Dabei lehnte Chávez die Freihandelszone zunächst gar nicht in Gänze ab. Allerdings sorgte er dafür, daß in der Abschlußerklärung der Konferenz zwei Fußnoten eingefügt wurden, in denen Vorbehalte der venezolanischen Delegation festgehalten wurden. Diese richteten sich unter anderem gegen die dort angekündigte »Demokratie-Charta« der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), denn die Demokratie müsse »in ihrem umfassende Sinne und nicht nur in ihrem repräsentativen Charakter« verstanden werden. Außerdem stellte Venezuela den festgelegten Zeitplan, wonach die Freihandelszone »spätestens im Dezember 2005« in Kraft treten solle, unter den Vorbehalt der eigenen Gesetzgebung. Chávez hatte zuvor bereits angekündigt, daß über einen Beitritt seines Landes das Volk in einem Referendum entscheiden müsse.

Auch durch andere Aktionen machte Chávez damals international auf sich aufmerksam. So versuchte er, den streng abgeschirmten Gebäudekomplex der Tagung zu verlassen, um mit den Demonstranten auf der Straße zu sprechen und ihre Argumente zu hören. Die kanadische Polizei hatte ihre liebe Mühe, den venezolanischen Präsidenten davon abzuhalten und versperrte ihm mit einer Kette aus Beamten den Weg.

Nur wenige Wochen später machte der venezolanische Präsident seine zunehmende Distanz zum ALCA-Projekt auch öffentlich deutlich: »Wenn es uns nützt, der ALCA beizutreten – das werden wir in den kommenden Jahren sehen –, dann werden wir es tun, und wenn nicht, dann eben nicht. So wie sie bislang angedacht ist und soweit wir sie bislang kennen, denke ich, daß sie uns nicht nutzt. Aber die Entscheidung treffen in Venezuela weder Chávez noch der Ministerrat noch die Nationalversammlung, sondern das Volk, das wir befragen werden.« In derselben Rede, gehalten am 5. September 2001 zum Auftakt der Arbeit einer kubanisch-venezolanischen Kommission, die Möglichkeiten zum weiteren Ausbau der Zusammenarbeit diskutieren sollte, sprach Chávez auch zum ersten Mal von einer grundsätzlich anderen Möglichkeit: »ALCA darf nicht der einzige Weg sein. Warum beginnen wir nicht damit, eine Alternative zur ALCA aufzubauen, für den Fall der Fälle. Wir sollten über diese Alternative sprechen und an ihre arbeiten, die wir ALBA nennen könnten, die Bolivarische Alternative für Amerika, ein anderes Modell der Integration.«8 Das Kürzel ALBA war geboren, und es war mehr als eine Anspielung auf ALCA. Alba ist Spanisch und bedeutet übersetzt Morgenrot.

Damals schrieb kaum jemand den Vorschlägen des Präsidenten besondere Bedeutung zu, denn Chávez war dafür bekannt, gerne neue Namen und Losungen zu erfinden, von denen viele über kurz oder lang wieder in der Versenkung verschwanden. Und auch die bilateralen Abkommen zwischen Venezuela und Kuba im Dezember 2004 wurden zumindest in Europa erstmal mit Achselzucken registriert. Das änderte sich, als im April 2006 der kurz zuvor gewählte Präsident Boliviens, Evo Morales, den Beitritt seines Landes zur ALBA erklärte. »Mit dem gasreichen Bolivien entsteht nun (…) ein Dreieck der Länder mit den größten Öl- und Gasvorkommen Lateinamerikas. ALBA ist neben den anderen Integrationsbündnissen des Kontinents jetzt ein ernstzunehmendes Projekt geworden«, kommentierte Alain-Xavier Wurst am 1. Mai 2006 auf zeit.de.

Die Bolivarische Alternative wuchs weiter. Am 11. Januar 2007 unterzeichnete Daniel Ortega den Beitritt Nicaraguas, ein Jahr später folgte der Karibikstaat Dominica und noch einmal sieben Monate später Honduras, dessen Präsident Manuel Zelaya in den Monaten zuvor einen Linksruck begonnen hatte und sein Land aus der Abhängigkeit von den USA befreien wollte. Mit dem Beitritt von Ecuador, San Vicente und den Grenadinen sowie Antigua und Barbuda am 24. Juni 2009 wuchs die ALBA auf neun Mitglieder an. Die im venezolanischen Maracay versammelten Staatschefs stellten fest, daß ihr Bündnis über eine rein propagandistische »Alternative« hinausgewachsen war und tauften ALBA auf den neuen Namen Bolivarische Allianz für die Völker Unseres Amerikas.

Doch die Gegner eines alternativen Entwicklungsweges für Lateinamerika blieben nicht untätig. Im Herbst 2008 scheiterten Versuche, die Regierung Boliviens durch sezessionistische Bestrebungen in den reichen Provinzen des Landes zu stürzen. Am 28. Juni 2009 überfielen reaktionäre Militärs in Tegucigalpa die Residenz des honduranischen Präsidenten. Auslöser für den Putsch war, daß Zelaya das Land durch eine verfassunggebende Versammlung demokratisieren wollte. Doch die Hintergründe dieses von den USA gesponserten Staatsstreichs waren nicht nur innenpolitische, sondern vor allem internationale. Durch den Putsch wurde Honduras aus der ALBA herausgebrochen.

Der Putsch in Honduras war sicherlich ein Grund dafür, daß andere Staatschefs in Lateinamerika vor einem Beitritt ihrer Länder bislang zurückschrecken. Paraguays Präsident Fernando Lugo, der mehrfach als Gast an ALBA-Treffen teilgenommen hatte, nutzte auch diese Zurückhaltung nichts, er wurde im vergangenen Jahr durch die rechten und liberalen Parteien im Parlament des südamerikanischen Landes gestürzt. El Salvadors »linker« Präsident Mauricio Funes ignorierte die Forderung seiner eigenen Partei, der früheren Guerillaorganisation FMLN, nach einem ALBA-Beitritt und orientierte auf Washington. Auch Uruguay beschränkt sich bislang darauf, einen Anschluß an die ALBA »zu prüfen«. Dennoch ist die Bolivarische Allianz zu einem spürbaren Faktor in Lateinamerika geworden.

1 George Bush: Remarks Announcing the Enterprise for the Americas Initiative; http://kurzlink.de/bush-remarks; abgerufen am 21.11.2011
2 George Bush: Remarks Announcing the Enterprise for the Americas Initiative; http://kurzlink.de/bush-remarks; abgerufen am 21.11.2011
3 Houston Economic Declaration, 11. Juli 1990; http://kurzlink.de/houston-declaration; abgerufen am 01.12.2011
4 Declaración Andina sobre la Iniciativa para las Américas, 7. August 1990; http://kurzlink.de/declaracion-andina; abgerufen am 01.12.2011
5 Carlos Gabetta: »Tócala otra vez, Sam…«; in: El País, 24.10.1990; http://kurzlink.de/elpais-bush; abgerufen am 01.12.2011
6 Vgl. Hartmut Sangmeister: Die Auslandsverschuldung Lateinamerikas; in: Brennpunkt Lateinamerika, Nr. 9 (13. Mai 2002), S. 90; http://kurzlink.de/sangmeister-LA; abgerufen am 01.12.2011
7 Fidel Castro: Un grano de maíz; Havanna 1992, S. 168f.
8 Rede des Präsidenten Hugo Chávez Frías am 5. September 2001; in:Selección de Discursos del Presidente de la República Bolivariana de Venezuela, Hugo Chávez Frías, Tomo III: 2001, Caracas 2005, S.398ff. (eigene Übersetzung)

Erschienen am 24. Juli 2013 in der ALBA-Beilage der Tageszeitung junge Welt