Ein mutiges Buch

[tds_info]Fernando Remírez de Estenoz: Zuflucht Havanna. Aus dem Spanischen übersetzt von Manfred Schmitz. Nora-Verlag, Berlin 2019, 514 Seiten, 24,90 Euro[/tds_info]

Eine alleinstehende junge Frau reist auf einem Kreuzfahrtschiff in die Karibik. Dort lebt ein Mann, mit dem sie einst in New York eine Affäre hatte. Doch der ist drauf und dran, sich mit einer anderen zu verloben. Und dann ist da noch der attraktive Mann, der mit seiner Tochter ebenfalls auf dem Schiff reist.

Nein, wir haben es nicht mit einer Schmonzette à la »Traumschiff« zu tun. Die Liebesgeschichte um Rebecca aus Wien und José Antonio aus Havanna ist nur das Salz in dem Roman »Zuflucht Havanna« von Fernando Remírez de Estenoz, der die Irrfahrt der »St. Louis« im Jahr 1939 behandelt. Mehr als 900 deutsche Juden waren damals mit dem Schiff der Reederei Hapag aus Hamburg nach Kuba aufgebrochen, auf der Flucht vor dem Terror der Nazis und der immer größeren Kriegsgefahr. Doch in Havanna blieb ihnen der Hafen verschlossen. Nur wenige der Passagiere konnten schließlich doch in Kuba an Land gehen, die meisten mussten verzweifelt erleben, wie sie das Schiff nach Europa zurückbrachte. Sie mussten befürchten, wieder den Nazis in die Hände zu fallen. Erst kurz vor der Elbmündung erreichte die »St. Louis« die Erlaubnis, in Rotterdam anzulegen. Die Passagiere wurden von Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien aufgenommen. Doch ein Jahr später besetzten die Faschisten Westeuropa, nur die in England aufgenommenen Menschen entgingen der Besatzung. Mehr als 250 der über 900 Menschen, die sich hoffnungsvoll auf die Reise in die erhoffte Freiheit der Neuen Welt gemacht hatten, starben in den Konzentrationslagern der Faschisten.

Remírez de Estenoz meistert die Herausforderung, das Drama der »St. Louis« lebendig werden zu lassen, ohne in süßlichen Kitsch im Stile von »Titanic« abzurutschen. Er konzen­triert sich darauf, wie in Kuba über den Umgang mit den Passagieren der »St. Louis« diskutiert wurde und wie viele Menschen versuchten, die Blockadehaltung der Behörden zu ändern. Sein Buch hebt sich damit von anderen literarischen Verarbeitungen der Nazidiktatur ab, denn es ist auch – und vor allem – ein Porträt Kubas und Havannas in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Zu spüren ist, dass Remírez de Estenoz seine Heimat kennt. Der Autor, Akademiker und früherer Diplomat des kubanischen Außenministeriums, beschreibt mit vielen Details und Anekdoten den Alltag des kubanischen Bürgertums jener Zeit. Lebendig werden nicht nur die politischen Tauschgeschäfte zwischen denen, die etwas geworden sind, und denen, die noch etwas werden wollen. Wie ein Stadtführer nimmt der Autor den Leser mit durch die Straßen und Plätze der kubanischen Metropole und beschreibt ein Havanna, das es heute so nicht mehr gibt – und das doch auch für solche Leser wiedererkennbar ist, die schon einmal zu Besuch dort waren. Gelegentlich gibt es kleine, leicht ironische Anmerkungen, die einem mit der Geschichte Havannas vertrauten Leser ein Lächeln entlocken können. Etwa, wenn sich Tony auf der Plaza de Armas fragt, wann denn wohl genug Geld beisammen sein würde, um dort das schon lange versprochene Denkmal für Carlos Manuel de Céspedes, den ersten Präsidenten Kubas, zu errichten. Es wurde erst 1955 eingeweiht.

Die Beschreibung anderer Schauplätze der Geschichte, etwa Wien, bleibt dagegen etwas zurück. Doch dem Autor gelingt es durchaus, auch die durch die Migrationsbewegungen der europäischen Juden und die wachsende Bedrohung durch die Nazis und ihren Antisemitismus geprägte Familiengeschichte seiner Heldin Rebecca erlebbar zu machen.

Es war mutig von Herausgeberin und Lektorin Camilla Seidelbach, das in der sehr guten deutschen Übersetzung von Manfred Schmitz mehr als 500 Seiten starke Buch praktisch in Eigenregie auf den deutschen Markt zu bringen. Da sind auch einige wenige grammatikalische Ungenauigkeiten oder übersehene Druckfehler leicht zu verschmerzen.

Erschienen am 27. Mai 2019 in der Tageszeitung junge Welt