Doppelte Standards

Es ist noch gar nicht so lange her: Im Januar schränkte der wenige Wochen später gestürzte ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch angesichts der anhaltenden Proteste auf dem Kiewer Maidan das Demonstrationsrecht ein. Unter anderem wurden Vermummung und die Besetzung von Gebäuden unter Strafe gestellt. Sofort hagelte es Proteste, vor allem aus Brüssel und Berlin.

Am Donnerstag abend verabschiedete das spanische Parlament mit der absoluten Mehrheit der unter anderem von früheren Ministern der Franco-Diktatur gegründeten Volkspartei (PP) ein Gesetz »zur Sicherheit der Bürger«. Die gesamte Opposition hat es treffender als »Maulkorbgesetz« bezeichnet. Schon die Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration kann demnach künftig mit einer Geldstrafe von 1.000 Euro bestraft werden, selbst wenn sie völlig gewaltfrei bleibt. Verboten ist das Verbreiten von Informationen zu Übergriffen der Polizei auf Demonstranten – eine offensichtliche Reaktion auf die zahlreichen Skandale der letzten Monate um die Gewaltexzesse der Sicherheitskräfte, die durch couragierte Journalisten oder zufällige Augenzeugen aufgedeckt wurden. Auch spektakuläre Aktionen wie das von Greenpeace bekannte Erklettern öffentlicher Gebäude gelten künftig als Straftat. Legalisiert wurden demgegenüber die brutalen Übergriffe der Grenzschützer in den beiden nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla. De facto hat Spanien das Asylrecht abgeschafft, denn künftig dürfen die dort eingesetzten Beamten der paramilitärischen Guardia Civil Flüchtlinge, die es über die auch mit deutschen Geldern massiv ausgebauten Grenzanlagen geschafft haben, direkt nach Marokko zurückprügeln – ohne dass diesen die Möglichkeit gegeben wird, ihr Anliegen vorzubringen. Solche Fälle (jW berichtete mehrfach) hatten in der spanischen Öffentlichkeit immer wieder für Empörung gesorgt.

Nun also hat Madrid dieses gesetzwidrige Vorgehen der Grenzschützer beendet – indem das Verhalten legalisiert wurde. Aber statt die soziale Notsituation von Millionen Menschen zu beheben, die in der Krise ihren Arbeitsplatz, ihre Wohnung und ihre Lebensgrundlagen verloren haben, verbietet die spanische Regierung den Opfern ihrer Politik den Protest dagegen.

Die Reaktion der Europäischen Union? Schweigen. Der Protest der Bundesregierung? Ausgeblieben. Sanktionen gegen die autoritären Machthaber in Madrid? Fehlanzeige.

Es zeigt sich einmal mehr, dass Menschenrechte, Versammlungs- und Meinungsfreiheit hehre Worte sind, die von den Regierenden dieses Landes und den ihnen nahestehenden Massenmedien immer dann herausgeholt werden, wenn es darum geht, die unwillige Regierung eines Landes zur Räson zu bringen. Die chinesische Polizei räumt nach Wochen weitgehend gewaltfrei Barrikaden einer Gruppe von Studenten? Stundenlange kritische Berichte im Fernsehen über das Vorgehen des Regimes gegen die »Demokratiebewegung«! Spanien verbietet ein Volksbegehren nach dem anderen? Kurzmeldungen, wenn überhaupt. Und der Protest gegen den staatlichen Rassismus der EU bleibt in den Massenmedien Satiresendungen wie der »Anstalt« vorbehalten. Aber wir sind ja vollauf damit beschäftigt, die mutigen Menschen der DDR zu feiern, die sich vor 25 Jahren einfach das Demonstrationsrecht genommen haben.

Erschienen am 13. Dezember 2014 in der Tageszeitung junge Welt