junge Welt, 10. Juli 2018

Diktator legt Eid ab

Es wäre wohl ein zu deutliches Kontrastprogramm geworden: Am Montag sollte in Akhisar im Westen der Türkei der Prozess gegen die Verantwortlichen des Bergwerksunglücks vom 13. Mai 2014 in Soma zu Ende gehen. Dort waren bei einem Brand während des Schichtwechsels offiziellen Angaben zufolge 301 Bergleute ums Leben gekommen. Die Tageszeitung Milliyet schrieb damals, dass Bergleute bereits mehrere Wochen vor der Katastrophe die Zuständigen über heiße Kohle informiert hätten, aber auf Desinteresse gestoßen seien. Die Gewerkschaften machten daraufhin nicht nur die Inhaber des Bergwerks, sondern auch die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan für das » Massaker« mitverantwortlich. Die Behörden hätten zugelassen, dass Sicherheitsvorschriften ignoriert wurden und ein unüberschaubares Netzwerk von Subunternehmen sowie zahlreiche Leiharbeiter in der Zeche beschäftigt waren.

Der Prozess gegen die mutmaßlich Hauptverantwortlichen hatte sich jahrelang hingezogen, schließlich wurde die Urteilsverkündung für Montag anberaumt. Wie das Internetportal Sol berichtet, hatten Beobachter und Angehörige der Opfer bereits die scharfen Sicherheitskontrollen zum Gerichtsgebäude passiert, als die Sitzung auf Mittwoch verschoben wurde. Einer der Richter sei erkrankt, hieß es zur Begründung. Angehörige bezweifelten das. Einige vermuteten, dass der eigentliche Grund für die Absage das Zugunglück sei, bei dem am Sonntag abend im Nordwesten der Türkei mindestens 24 Menschen ums Leben gekommen waren. Es gibt Parallelen zu der Katastrophe von Soma: Die Transportarbeitergewerkschaft Nakliyat-Is macht die Regierung und deren Kurs auf Privatisierung der türkischen Eisenbahnen für das Unglück verantwortlich. Die Profitinteressen der Unternehmen seien wichtiger gewesen als das Leben der Passagiere und Beschäftigten.

Andere Beobachter, die zu der Urteilsverkündung in Akhisar angereist waren, spekulierten, dass der im Juni wiedergewählte Staatschef Recep Tayyip Erdogan am Tag seiner Vereidigung keine vom Pomp ablenkenden Bilder gewünscht habe. Erdogan hatte am Nachmittag vor den Abgeordneten des Parlaments den Amtseid abgelegt. Für den Abend war eine Feier mit 10.000 geladenen Gästen im Präsidentenpalast in Ankara vorgesehen. Angereist waren zu der Veranstaltung unter anderem der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew, Venezuelas Präsident Nicolás Maduro und der chinesische Kulturminister Luo Shugang. Die Bundesregierung ließ sich durch Altbundeskanzler Gerhard Schröder vertreten.

Sevim Dagdelen, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke im Bundestag, sagte gegenüber junge Welt, mit der Vereidigung Erdogans werde »der Ausnahmezustand zum Normalzustand in der Türkei«. Die am Wochenende erfolgte Entlassung von über 18.000 Beamten aus dem Staatsdienst zeige, wohin die Reise geht. »Es steht zu erwarten, dass Erdogan seine despotische Machtfülle dazu nutzt, noch härter gegen die Opposition vorzugehen und Andersdenkende zu verfolgen.« Sie forderte einen Stopp von Rüstungsexporten und Finanzhilfen, ein Einfrieren der EU-Beitrittsverhandlungen sowie den Abzug der Bundeswehr aus der Türkei. »Wer wie Erdogan die Region Afrin im Nachbarland Syrien gemeinsam mit den islamistischen Terrormilizen der ›Freien Syrischen Armee‹, FSA, überfällt, kann kein Partner für Sicherheit sein.«

Erschienen am 10. Juli 2018 in der Tageszeitung junge Welt