Die Welt schreit auf

Weltweit haben Regierungen, Parteien und einfache Menschen mit Empörung auf den Überfall der israelischen Marine auf die humanitäre Friedensflotte für den Gazastreifen reagiert. Während israelische Medien versuchten, den Piratenakt vom Montag zu rechtfertigen, demonstrierten am Hafen von Aschdod Mitglieder der Israelischen Koalition gegen die Gaza-Blockade ihre Unterstützung für die Teilnehmer des Hilfskonvois. In diesen südlich von Tel Aviv an der Mittelmeerküste gelegenen Hafen waren die gekaperten Schiffe gebracht worden. Der Vorsitzende des israelischen Linksbündnisses Hadash, Mohammad Barakeh, »gratulierte« der israelischen Regierung zu dem »glorreichen Sieg ihrer Piratenarmee gegen die zivilen Freiheitsschiffe«. Die »Tyrannen« Netanjahu und Barak »werden sich auf dem ihnen angemessenen Platz, auf dem Müllhaufen der Geschichte, wiederfinden«, kündigte Barakeh an, der auch führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Israels ist.

Weltweit kam es am Montag und Dienstag zu spontanen Protestkundgebungen vor israelischen Botschaften und Konsulaten. In Berlin demonstrierten noch am Montag rund 500 vor allem türkische und arabische Migranten vor der diplomatischen Vertretung Israels. Palästinensische Frauen skandierten dabei »Israel bombardiert, Merkel finanziert!« Zu einer weiteren Demonstration am Dienstag abend in Berlin hatten antifaschistische Gruppen aufgerufen. In München demonstrierten rund 400 Menschen, unter ihnen Vertreter der Palästinensischen Gemeinde, der Linkspartei und der SDAJ. In einer Erklärung forderte der DKP-Vorstand, die Verantwortlichen für die Piraterie und Morde vor unabhängigen Gerichten anzuklagen und alle deutschen Waffenlieferungen an Israel sofort zu beenden. Zugleich warnte er: »Laßt euch durch diese Ereignisse nicht für antisemitische Politik mißbrauchen.« Auch in Bremen, Bonn, Freiburg und anderen deutschen Städten, in Österreich und der Schweiz kam es zu Kundgebungen.

In London belagerten rund 2000 Menschen die israelische Botschaft. Hier ergriffen unter anderem der Labour-Unterhausabgeordnete Jeremy Corbyn und der Historiker und Publizist Tariq Ali das Wort. Auch in Manchester zogen mehrere tausend Menschen durch die Stadt und protestierten vor allem gegen die einseitig pro-israelische Berichterstattung der BBC. Als sie deshalb kurzzeitig die Studios der Rundfunkgesellschaft besetzten, griffen Spezialeinheiten der Polizei ein und gingen gewaltsam gegen die Besetzer vor. Auch Delegationen der Gewerkschaften UNITE und UCU, die derzeit in Manchester ihre Kongresse abhalten, beteiligten sich an der Demonstration, nachdem die Führungsspitzen beider Arbeiterorganisationen die Delegierten offiziell zur Teilnahme aufgerufen hatten. Weitere Demonstrationen mit jeweils mehreren hundert Teilnehmenden gab es unter anderem in Bristol, Nottingham und Cardiff.

In Lateinamerika reagierten die Regierungen unisono mit heftiger Empörung auf das israelische Vorgehen. Brasiliens Außenministerium betonte, nichts rechtfertige die militärische Intervention gegen einen friedlichen Schiffskonvoi, der strikt humanitären Charakter gehabt habe, und forderte Israel auf, die Blockade des Gazastreifens aufzuheben, um seinen Bewohnern Bewegungsfreiheit und Zugang zu Lebensmitteln und Trinkwasser zu ermöglichen. In Havanna unterstrich die kubanische Regierung noch einmal ihre Unterstützung für den »gerechten Kampf des palästinensischen Volkes um die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt«. In einer am Dienstag von der Tageszeitung Granma unter dem Bild einer von einem israelischen Dolch erstochenen Friedenstaube veröffentlichten offiziellen Erklärung heißt es: »Das Außenministerium verurteilt energisch diesen hinterhältigen und verbrecherischen Angriff der Regierung Israels und ruft die internationale Gemeinschaft und die friedliebenden Völker auf, von den israelischen Behörden die sofortige Aufhebung der gegen das palästinensische Volk im Gazastreifen gerichteten illegalen, schonungslosen und völkermörderischen Blockade zu verlangen.«

Auch Venezuela verurteilte das »brutale Massaker«. »Präsident Hugo Chávez drückt im Namen seiner Regierung und des venezolanischen Volkes seine tiefe Trauer aus und übermittelt den Familien und Angehörigen der Helden, die Opfer dieses staatlichen Verbrechens wurden, sein Beileid. Er verpflichtet sich, ihr Andenken zu ehren und die notwendige Hilfe zu leisten, damit die Verantwortlichen für diese Morde hart bestraft werden«, heißt es in der vom venezolanischen Außenministerium in Caracas verbreiteten Erklärung.

Der russische Präsident Dmitri Medwedew verurteilte den israelischen Angriff auf den Hilfskonvoi und verlangte eine genaue Untersuchung. Doch auch dadurch würden die »absolut unnötigen« Opfer nicht wieder lebendig, erklärte er am Dienstag nachmittag bei einem Gipfeltreffen von EU und Rußland in Rostow am Don. Sein Außenminister Sergej Lawrow und die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton forderten Israel auf, Hilfs- und Handelstransporte in den Gazastreifen ungehindert passieren zu lassen.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der nach den ersten Nachrichten über den israelischen Piratenakt eine Südamerika-Reise abgebrochen hatte, sprach am Dienstag nach einem Krisentreffen der militärischen Führung des Landes von einem »blutigen Massaker«. Es habe sich um einen Angriff »auf das internationale Recht, das Gewissen der Menschheit und den Weltfrieden« gehandelt. Das türkische Außenministerium warnte, der Schaden für die türkisch-israelischen Beziehungen sei »möglicherweise irreparabel«. Libanons Regierungschef Saad Hariri sprach von einer »gefährlichen und wahnsinnigen Aktion« Israels, die die gesamte Region in Brand setzen könne. Ein irakischer Regierungssprecher nannte die Kaperung der Hilfsschiffe »eine weitere humanitäre Katastrophe«, die sich in Israels bisherige Blockadepolitik gegen das Gaza-Gebiet einreihe.

Erschienen am 2. Juni 2010 in der Tageszeitung junge Welt (mit Christian Bunke und Knut Mellenthin)