»Die Revolution braucht eine kollektive Führung«

Gespräch mit Carlos Aquino, Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV)

Die Präsidentschaftswahl am vergangenen Sonntag ist knapper ausgefallen als erwartet. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Wir Kommunisten wissen, daß es für alles eine Erklärung gibt. Es wäre aber voreilig, eine genaue Erklärung über die Ursachen bestimmter Entwicklungen abgeben zu wollen. Aber festzuhalten ist, daß sich das venezolanische Volk in ausreichend klarer Weise, mit mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen für eine politische Option entschieden hat.

 

Ist dieses Ergebnis auch ausreichend klar, um die Bolivarische Revolution weiter zu vertiefen und voranzutreiben?

Möglicherweise ist eine Erklärung für dieses Ergebnis sogar, daß es an größerem Einsatz für eine Vertiefung des revolutionären Prozesses in Venezuela gefehlt hat. In der Vergangenheit hat die starke Persönlichkeit des Comandante Chávez und seine große Führungskraft in gewisser Weise bestimmte Defizite überlagert. Diese zu überwinden ist in unseren Augen jetzt die Aufgabe, vor der der revolutionäre Prozeß steht. Bislang hatte er mit dem Präsidenten Hugo Chávez eine große Symbolfigur. Doch wir sind davon überzeugt, daß das venezolanische Volk auch unter den neuen Bedingungen bereit ist, diesen Prozeß weiter voranzutreiben.

Hat diese Wahl Nicolás Maduro gewonnen – oder Hugo Chávez? Immerhin war dessen Bild im Wahlkampf fast präsenter als das des Kandidaten …

Der Erfolg am Sonntag war ebenso wie die Siege bei früheren Wahlen ein Erfolg des venezolanischen Volkes. Das Ergebnis zeigt, wenn auch knapper als früher, daß das venezolanische Volk in unserem Land weiter die Hauptrolle spielen will. In den vergangenen 14 Jahren ist in unserem Land ein Verständnis dafür entstanden, daß die Leitung der Geschicke in den Händen des Volkes liegt, und der Präsident dafür die politische Verantwortung trägt. Das Volk nimmt nicht nur an den Wahlen teil, sondern ist ständiger Akteur bei der Entwicklung und Ausgestaltung der Politik in unserem Land. Wir sind uns natürlich bewußt, daß die internationale Rechte nun auf verschiedenen Wegen versuchen wird, diesen Erfolg in Frage zu stellen.

Es ist aber offensichtlich, daß Nicolás Maduro noch nicht über dieselbe Autorität wie Hugo Chávez verfügt. Wie wird sich der revolutionäre Prozeß unter diesen neuen Bedingungen verändern?

Bereits in den vergangenen Jahren, auch als Präsident Chávez noch lebte, hat die Kommunistische Partei Venezuelas immer wieder auf die Notwendigkeit einer kollektiven Führung des revolutionären Prozesses hingewiesen. Wir haben uns nie auf der großen Glaubwürdigkeit und Führungsfähigkeit des Comandante Chávez ausgeruht, und das gilt auch mit einem Präsidenten Nicolás Maduro an der Spitze. Eine kollektive Führung ist unverzichtbar dafür, dem revolutionären Prozeß historische Kontinuität zu verleihen.

Präsident Maduro hat sich bereits bereiterklärt, Schritte zu einer solchen kollektiven Führung zu gehen und Räume für eine gemeinsame Diskussion, Ausarbeitung und Entwicklung der Staatspolitik zu schaffen. Das sind erste Schritte, die bereits unter Hugo Chávez begonnen wurden, als dieser den Großen Patriotischen Pol ins Leben rief.

Bislang haben die Streitkräfte in Venezuela eine wichtige Rolle gespielt, auch weil Hugo Chávez aus ihren Reihen stammte. Wie wird sich das Verhältnis der Revolution zur Armee nun entwickeln?

Das ist eine historisch heikle Frage. Man muß verstehen, daß die Strukturen des Militärs eine der herrschenden Säulen des Staates sind, der in Venezuela nach wie vor den Charakter eines bürgerlichen Staates hat. Wir stellen deshalb fest, daß die venezolanischen Streitkräfte, auch wenn sie den Namen »Bolivarisch« tragen, kein Stützpunkt eines neuen Staates sind, denn diesen neuen Staat gibt es noch nicht. Der Klassenkampf, der sich in allen gesellschaftlichen Bereichen abspielt, findet auch in den Streitkräften statt. Unter Bedingungen einer revolutionären Bewegung, wie wir sie jetzt in Venezuela erleben, verschärft sich der Klassenkampf. Deshalb ist die ideologisch-politische Arbeit im Rahmen der Streitkräfte unverzichtbar, um immer größere Teile des Militärs für die revolutionären Veränderungen zu gewinnen, die in Venezuela noch ausstehen. Wir sind uns dabei bewußt, daß die venezolanischen Streitkräfte in der Geschichte unseres Landes an Versuchen der revolutionären Veränderung beteiligt waren. Deshalb gibt es für dieses Ziel eine günstige Basis in der Armee.

Solche Informationen werden von den meisten internationalen Medien nicht verbreitet. Welche Möglichkeiten hat das venezolanische Außenministerium, Ihre Sichtweise im Ausland darzustellen?

Wir sind auf den Zugang zu alternativen, fortschrittlichen Medien angewiesen. Das gilt nicht nur im Ausland, sondern auch in Venezuela selbst. Die sieben großen kommerziellen Mediengruppen in unserem Land verfolgen die Linie, nicht über die Gewalt der Opposition zu informieren und stattdessen die Regierung von Nicolás Maduro als illegitim zu attackieren. Zudem hat es Treffen von Außenminister Elías Jaua mit dem gesamten diplomatischen Korps und Pressekonferenzen mit allen in Venezuela akkreditierten internationalen Medien gegeben. Uns ist aber klar, daß die meisten Medien entsprechend ihrer Linie darauf beharren werden, den neuen Putschversuch zu unterstützen.

Erschienen am 17. April 2013 in der Tageszeitung junge Welt