»Die Polizei nahm Tote in Kauf«

Die Polizei hat am Donnerstag abend am Hamburger Hafen eine bis dahin vollkommen friedliche Demonstration brutal angegriffen. Zahlreiche Menschen wurden durch Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstockeinsätze verletzt, viele von ihnen schwer, eine Person befand sich am Freitag noch in kritischem Zustand. »Die Polizei hat Tote in Kauf genommen«, sagte deshalb Andreas Beuth vom Organisationsbündnis der Demonstration während einer Pressekonferenz im alternativen Medienzentrum FC/MC. Auch die Sprecher anderer Bündnisse der G-20-Protestbewegung verurteilten die Übergriffe der Staatsmacht. Mit Blick auf die für Sonnabend angekündigte Großdemonstration kündigten sie an, dass alle Spektren des Protest zusammenhalten werden. »Wir lassen uns nicht spalten!« betonte Christoph Kleine von der G-20-Plattform, in der sich die verschiedenen Zusammenschlüsse koordinieren.

Vor Beginn des eigentlichen Marsches am frühen Abend hatten am Nachmittag etwa 10.000 Menschen stundenlang am Fischmarkt ein fröhliches Konzert mit zahlreichen Bands gefeiert. Am Abend formierte sich in der Hafenstraße der unter dem Motto »Welcome to Hell« (Willkommen in der Hölle) angemeldete Protestmarsch mit nach Veranstalterangaben 15.000 Menschen, die Polizei sprach von 12.000 Teilnehmern. Doch sofort versperrten vier Wasserwerfer, ein Räumpanzer und mehrere Hundertschaften der Polizei die komplette Fahrbahn. Begründet wurde das mit der »Vermummung« einiger Demonstrationsteilnehmer.

Beuth erläuterte dazu am Freitag, dass es Absprachen zwischen den Anmeldern und der Polizei gegeben habe, wonach Tücher nur bis zur Unterlippe hochgezogen werden dürften. Das habe man dem aus rund 1.000 Menschen bestehenden »schwarzen Block« kommuniziert, worauf die Demonstranten ihre Gesichter kenntlich gemacht hätten. Weiter hinten im Zug soll es jedoch einige hundert Personen gegeben haben, die der Aufforderung nicht sofort gefolgt seien. Ohne weitere Vorwarnung habe die Polizei daraufhin begonnen, in die Demonstrationsspitze zu prügeln, »in genau die Leute also, die die Vermummung abgelegt hatten«, wie Beuth sagte. Er zeigte sich auch am Freitag noch schockiert über den »Hass in den Gesichtern« der Beamten. Das Vorgehen habe zudem auch bei Unbeteiligten Panik ausgelöst, da sie keine Fluchtmöglichkeit gesehen hätten. Tatsächlich ist die Hafenstraße an dieser Stelle beidseitig von Mauern umgeben, die kaum zu überklettern sind. Zudem rückte die Polizei nicht nur von vorne gegen die Menge vor, auch im Rücken der Demonstranten zogen, vom Fischmarkt her kommend, Wasserwerfer auf.

Aus den Häusern und von den Seiten beobachteten Tausende Schaulustige und Anwohner die Ereignisse auf der Straße. Obwohl viele offenkundig die Sensationslust zum Kommen bewogen hatte, breitete sich auch unter den Zuschauern schnell Entsetzen und Empörung über das Vorgehen der Beamten aus. Manche begannen selbst die Polizei zu beschimpfen. Vereinzelt flogen auch Flaschen oder Steine auf die prügelnden Beamten. Diese machten daraufhin mit Stoßtrupps Jagd auf einzelne Personen und attackierten auch vollkommen unbeteiligte Menschen. So geriet ein junges Pärchen auf einer Treppe in eine Gruppe behelmter Polizisten. Als es darum bat, vorbeigelassen zu werden, schlug ein Beamter der jungen, schmächtigen Frau mit der Faust mitten in das Gesicht. Für die Proteste der Umstehenden hatte der Ordnungshüter nur höhnische Kommentare übrig.

Immer wieder waren Sanitäter zu sehen, die sich um Verletzte kümmern mussten. Mehrere Menschen wurden auf Tragen abtransportiert, einige wurden direkt vor Ort an den Tropf angeschlossen. Auch Journalisten wurden von den Polizisten verletzt.

Es gelang der Polizei schließlich, den »schwarzen Block« zu zerschlagen – doch die Demonstration blieb standhaft. Als sich die Wasserwerfer und Polizeiketten langsam zurückzogen, rückten sofort die Menschen nach und formierten einen neuen Zug. Es war nun eine bunte Menge, und offenkundig waren viele hinzugekommen, die sich die Ereignisse zunächst nur vom Rand aus hatten ansehen wollen. Ihr Weg voran endete zunächst jedoch erneut nach wenigen hundert Metern, denn an den Landungsbrücken versperrten Hundertschaften der Polizei wieder den Weg. Nach längeren Verhandlungen konnte jedoch eine Route durch St. Pauli durchgesetzt werden. »Die Leute auf der Straße haben sich ihre Demonstration erkämpft«, erklärte Beuth. Die Teilnehmerzahl an dem spontanen zweiten Marsch bezifferte er auf 20.000 Menschen. Er konnte über die Reeperbahn bis zur Sternbrücke ziehen, doch dort wurde er erneut mit Wasserwerfern und Pfefferspray attackiert.

Hamburgs Innensenator Andy Grote sprach am Freitag auf einer Pressekonferenz von »hoher krimineller Energie« und einem »erschreckenden Gewaltpotential«. Er hat recht: So kann man das Vorgehen der Staatsmacht beschreiben.

Erschienen am 8. Juli 2017 in der Tageszeitung junge Welt