Der Klassenkampf spitzt sich zu

Im Schatten des Krieges der USA und ihrer Verbündeten gegen Afghanistan und des Volksaufstandes in Argentinien spitzte sich im Dezember in Venezuela die Konfrontation zwischen der Regierung um Hugo Chávez und den sie unterstützenden Organisationen auf der einen und der reaktionären Opposition auf der anderen Seite zu.

Vorläufiger Höhepunkt der Konfrontation war ein vom Unternehmerverband Fedecámaras am 10. Dezember ausgerufener Generalstreik, der sich gegen die fortschrittlichen Gesetze der Regierung richtete, insbesondere gegen die in Angriff genommene Bodenreform.

"Chávez führt Venezuela in einen sinnlosen Kommunismus!" So tönte der ehemalige Präsident Carlos Andrés Pérez und meinte damit die Verabschiedung von 49 Gesetzen, die seiner Meinung nach "das Privateigentum abschaffen". Der in Venezuela "CAP" genannte Politiker, dem es während seiner Amtszeit nicht gelang, die Armut in Venezuela zu bekämpfen, stellte sich mit solchen Äußerungen offen auf die Seite der Unternehmer und rief zur Beteiligung an konterrevolutionären Aktionen auf. Die venezolanischen KommunistInnen, die große Mehrheit der Bevölkerung Venezuelas und die Linke hingegen stehen auf der Seite der Bolivarianischen Revolution, wie der in Venezuela seit bald drei Jahren vorangetriebene Reformprozess genannt wird. Und so kann Jerónimo Carrera, Chefredakteur der Zeitung der venezolanischen KommunistInnen, "Tribuna Popular" in einem Gastbeitrag für die chilenische "El Siglo" berichten:

Neuverteilung des Bodens

"Die treffendste Einschätzung des Tages, den wir Venezolaner am 10. Dezember erlebt haben und über den national und international alle Art von düsteren Vorhersagen kursierten, lässt sich zusammenfassen: Viel Lärm um nichts. (…) Gestern konnte man feststellen, dass die Herrschaften, die sich selbst großspurig als das Unternehmertum bezeichnen die legale Möglichkeit haben, ihre Geschäfte zu schließen, wenn ihnen danach ist. Doch das bedeutet nicht, dass sie die Möglichkeit haben, das Volk zu betrügen, denn alle Massendemonstrationen dieses Tages waren für Chávez und für die fortschrittlichen Gesetze…" Chávez selbst erklärte am 10. Dezember vor Zehntausenden Anhängern: "Das Volk hält niemand auf, niemand hält Venezuela auf, niemand hält die Revolution auf."

Der Unternehmerverband Fedecámaras nahm die Verabschiedung zum Anlass, den Streik vom 10. Dezember auszurufen. Carolus Wimmer, Internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), erläutert: "Es handelt sich um ein Paket von revolutionären Gesetzen, von denen am umstrittensten das Gesetz über den Boden, das Gesetz über den Fischfang und das Gesetz über die Erdölförderung sind. Das Gesetz über den Boden ermächtigt den Staat, private Ländereien zu übernehmen und neu zu verteilen. Diese Neuverteilung schließt auch Ländereien ein, die eine Größe von 5000 Hektar überschreiten oder die brach liegen. (…) Das Gesetz über den Fischfang erweitert die Küstenschutzzone von drei auf sechs Meilen, in denen es nicht erlaubt ist, mit Schleppnetzen zu fischen, was den handwerklichen Fischern und dem ökologischen Gleichgewicht des Meeres zugute kommt.

Das Gesetz über die Erdölförderung nimmt 20 Jahre antipatriotischer Liberalisierung und Privatisierung zurück. Entsprechend dem neuen Gesetz ist eine Regierungsmehrheit bei allen neuen ´Joint Ventures´ dieses Sektors vorgeschrieben."

Die Revolution ist nicht wehrlos

Es ist wohl kein Wunder, dass die besitzende Klasse Venezuelas Zeter und Mordio schreit und die Exilkubaner in Miami mit Schrecken ein "zweites Kuba" in Südamerika ausmachen. Doch bislang sind sie mit allen Provokationen, die in ihren Formen nicht zufällig an die Vorgänge in Chile vor dem Sturz Präsident Allendes 1973 erinnern, gescheitert. "Wir erinnern daran", so Carolus Wimmer, "die Bolivarianische Revolution ist ein demokratischer, friedlicher und vom Volk getragener Prozess mit einer zivil-militärischen Struktur, das heißt, es ist keine waffenlose Revolution!" Chávez kommt selbst aus den Reihen des Militärs und verfügt deshalb dort über ungleich größeren Rückhalt, den er den "Schutz der Revolution durch das uniformierte Volk" nennt. Es ist zu hoffen, dass Chávez hier keiner Fehleinschätzung unterliegt. Viele Offiziere sind in den USA ausgebildet worden und haben gute Verbindungen nach Washington, was in der US-Presse durchaus als Szenario für einen gewaltsamen Sturz Chávez´ diskutiert wird. Und die US-Botschaft in Caracas mischt sich längst offen in die inneren Angelegenheiten des Landes ein, und das nicht nur, wenn sie wie Anfang Dezember dagegen protestiert, dass Chávez den Krieg der USA gegen Afghanistan genauso verurteilt wie die Terroranschläge in den USA. Doch Chávez ist sich der Träume der venezolanischen Rechten bewusst: "Die Oligarchen hoffen und glauben, dass hier in Venezuela dasselbe passieren wird wie in Chile 1973. Sie glauben und träumen davon, dass hier ein zweiter Pinochet auftaucht, der sie vor der Revolution rettet. (…) Die chilenische Revolution war eine Revolution, die vom Volk unterstützt wurde und die mittels der Massenmedien destabilisiert wurde, das gleiche Spielchen, das sie hier spielen. Sie wurde destabilisiert durch die Oligarchen, die in diesem Moment die wirtschaftliche Macht hatten, das selbe Spielchen, das die Spitzen der Fedecámaras und die von den mächtigsten Oligarchen beherrschten Medien hier versuchen. (…) Die chilenische Revolution war also eine vom Volk unterstützte Revolution, aber leider eine waffenlose Revolution. Es genügte, dass ein General ein Telefon in die Hand nahm, damit die Revolution in Chile am Boden lag. Hier ist die Situation radikal verschieden. (…) Diese Revolution, ich wiederhole es, damit sich niemand täuscht, ist eine friedliche Revolution, aber es ist eine bewaffnete Revolution."

Basisorganisation zur Verteidigung der Revolution

Doch die venezolanischen RevolutionärInnen verlassen sich nicht allein auf das Militär. Am 17. Dezember wurden auf einer Massenkundgebung in Caracas, bei der Chávez auch diese Ausführungen über die Lehren aus dem Putsch in Chile machte, offiziell die "Circulos Bolivarianos" (Bolivarianische Zirkel) als ein System der Organisation des Volkes von der Basis her gegründet. Die Aufgabe dieser Circulos, von denen es bereits über 20 000 geben soll, ist es, die Beteiligung der Menschen und Gemeinschaften am revolutionären Prozess zu fördern und zu leiten. Vielleicht ist diese Organisationsform am ehesten mit den kubanischen Komitees zur Verteidigung der Revolution zu vergleichen.

Auch wenn die Rahmenbedingungen unterschiedlich sind, so nimmt sich die Bolivarianische Republik immer wieder die rote Insel in der Karibik zum Vorbild, was sich nicht nur in fast halbjährlich stattfindenden gegenseitigen Staatsbesuchen ausdrückt. Und so traf es sich ausgezeichnet, dass genau an jedem 10. Dezember, an dem die Rechte die venezolanische Revolution erschüttern wollte, das Gipfeltreffen der Staatschefs der Karibikstaaten auf der venezolanischen Insel Margarita stattfand und Chávez deshalb bei der Demonstration zur Unterstützung des Regierungskurses verkünden konnte: "Wir werden Fidel bei uns haben. (…) Ich möchte einen besonderen Gruß an Fidel und an seine Revolution aussprechen, die wir als die unsere empfinden, und an sein Volk, das heldenhafte Volk Kubas, dieses Volk der Würde und Beispiel für die Welt und uns alle."

Was dies konkret bedeuten könnte, sprach Chávez ebenfalls am 17. Dezember bei der Gründung der "Circulos Bolivarianos" aus, als er mit Bezug auf die Widerstände der Industriellen und Großbanken gegen die Politik der Bolivarianischen Revolution meinte: "Wer nicht will, nun gut, der soll in ein anderes Land gehen und uns die Bank überlassen. Die Bank werden sie nicht mitnehmen, wir können sie nationalisieren."

Auch wenn Chávez kein Kommunist ist – er selbst meint, er sei "weder Marxist noch Anti-Marxist" -, so hat er doch erkannt, dass seine Revolution scheitern muss, wenn sie sich auf das politische Feld beschränkt. "Es wird uns, glaube ich, mindestens das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts beschäftigen, die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen Venezuelas tiefgreifend umzugestalten. Das Problem der Arbeitslosigkeit löst man nicht dauerhaft und solide auf strukturellem Wege, wenn wir nicht zuerst die Wirtschaftsstrukturen des Neoliberalismus, die wir geerbt haben, und des entfesselten Kapitalismus überwinden."

Die Bolivarianische Revolution scheint Früchte zu tragen. Die Arbeitslosigkeit ist einem Bericht der kubanischen Tageszeitung "Granma" zufolge im abgelaufenen Jahr auf knapp über 10 Prozent gesunken. Als Chávez 1999 die Präsidentschaft übernahm, hatte sie noch bei 16,6 Prozent gelegen.

Solidarität der Linken Lateinamerikas

Nicht nur in Kuba hat die Bolivarianische Republik einen treuen Verbündeten, auch die lateinamerikanische Linke verfolgt aufmerksam die Vorgänge in Venezuela, die nicht erst seit dem Volksaufstand in Argentinien eine sichtbare Alternative zur neoliberalen Politik der Herrschenden aufzeigen. Und so kann es nicht überraschen, dass sich auch das Forum von Sao Paulo, das große Treffen der linken Organisationen Lateinamerikas, hinter die Bolivarianische Revolution stellt: "Die vom Ausland geschürte wachsende Bedrohung (der venezolanischen Revolution) ist eine reale Tatsache, die den Protest aller fortschrittlichen und demokratischen Volksorganisationen der Welt und insbesondere der Völker Lateinamerikas und der Karibik herausfordert. Das X. Treffen des Forums von Sao Paulo kommt überein, seine Unterstützung für den revolutionären Prozess auszudrücken, den Venezuela erlebt, wie auch für die Organisationen und Bewegungen, die an diesem Projekt als Ausdruck der Kräfte des Volkes, die zur Erkämpfung der sozialen Gerechtigkeit voranschreiten, beteiligt sind." Das Forum von Sao Paulo rief die beteiligten Organisationen auf, über die "wirkliche Natur" der Bolivarianischen Revolution aufzuklären und eine "breite internationale Solidaritätsbewegung mit dem Volk Venezuelas und seiner Regierung" anzustoßen.

Erschienen in der Wochenzeitung "Unsere Zeit" vom 11. Januar 2002