Deportation in den Krieg

Die größte Gefahr für die Menschen in Afghanistan sind nicht mehr die aufständischen Taliban oder andere dschihadistische Gruppen. Noch mehr fürchten müssen sich die Einwohner des asiatischen Landes inzwischen vor den Truppen ihrer eigenen Regierung und deren Verbündeten. Das geht aus einem Bericht hervor, den die UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) am Mittwoch vorgelegt hat. Demnach wurden in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres 1.773 Zivilisten durch Kriegshandlungen verletzt oder getötet. Das war zwar ein Rückgang um 23 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, allerdings schnellte zugleich die Zahl der getöteten oder verletzten Opfer von Einsätzen der Regierungstruppen, ihrer ausländischen Alliierten – vor allem den USA – oder von mit ihnen verbündeten Milizen um 39 Prozent auf 608 hoch.

Damit sind die von Kabul befehligten Truppen und ihre Partner im ersten Quartal für mehr zivile Todesopfer verantwortlich gewesen als die Aufständischen. 305 unbeteiligte Menschen wurden von ihnen getötet, während 227 Menschen nach Angriffen der Taliban, der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« oder anderer aufständischer Kräfte starben. 49 Zivilisten konnten keiner Seite zugezählt werden. Insgesamt verloren dem Bericht zufolge von Januar bis Ende März 581 Zivilisten das Leben, unter ihnen 150 Kinder.

Die UNAMA kritisiert in dem Bericht, dass insbesondere Luftangriffe und Suchoperationen der Regierungstruppen immer wieder zivile Opfer forderten, in der Hälfte der Fälle seien Frauen und Kinder getroffen worden. Allein am 23. März haben die Regierungstruppen demnach bei einem Bombardement in Kundus zehn Kinder, zwei Frauen und einen Mann getötet. US-Präsident Donald Trump hatte im Jahr 2017 die Bombardierung von Positionen der Aufständischen durch Kampfflugzeuge erleichtert, daraufhin erhöhte das US-Militär die Zahl der Attacken auf die gegnerischen Stellungen – offenkundig ohne Rücksicht auf Verluste. Ob auch deutsche Soldaten an der Tötung unschuldiger Zivilisten beteiligt waren, geht aus dem Bericht nicht hervor.

Trotz des ungebrochen anhaltenden Krieges am Hindukusch schiebt die Bundesregierung weiter Geflüchtete nach Afghanistan ab. Nach Informationen der Menschenrechtsorganisation »Pro Asyl« sollte am Mittwoch der inzwischen 23. Sammelabschiebeflug starten. Das sei »unverantwortlich«, warnte die rechtspolitische Referentin von Pro Asyl, Bellinda Bartolucci. Die afghanische Regierung könne den Schutz der Bevölkerung nicht sicherstellen, hieß es in einer Pressemitteilung der Organisation. Das zeige auch die hohe Zahl getöteter Sicherheitskräfte. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani hatte im Januar erklärt, seit seinem Amtsantritt 2014 seien mehr als 45.000 Angehörige von Armee und Polizei getötet worden. »Die Zahl der internationalen Verluste liegt unter 72«, zitierte ihn die BBC. Das zeige, »wer den Kampf führt«.

Während die Truppen der Regierung im November 2015 noch 72 Prozent aller Distrikte des Landes unter ihrer vollständigen Kontrolle hatten, waren dies im Oktober 2018 nur noch 54 Prozent. Das geht aus einem im Januar vom US-Generalinspektor für den Wiederaufbau Afghanistan veröffentlichten Bericht hervor. Die Taliban konnten demnach ihre Gebietsgewinne im selben Zeitraum verdoppeln, rund ein Viertel des Landes sei konstant umkämpft. Die Bundeswehr ist mit bis zu 1.300 Soldaten an dem Krieg beteiligt.

Erschienen am 25. April 2019 in der Tageszeitung junge Welt