»Déjà-vu der Schande«

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat die EU aufgefordert, nach der Europawahl dem Retten von Menschenleben im Mittelmeer Priorität einzuräumen. »Jeder weitere Tag, der verstreicht, kostet die Leben von Männern, Frauen und Kindern«, sagte Dominik Bartsch, UNHCR-Repräsentant in Deutschland, am vergangenen Donnerstag der Deutschen Presseagentur. »Im letzten Jahr starben im Mittelmeer 2.277 Menschen«, beklagte er. »Es ist, als wenn mehr als ein Dutzend vollbesetzter Boeings abstürzen und alle an Bord sterben, aber niemanden kümmert es so recht.« Insbesondere müsse es eine Regelung für die Verteilung der Schutzsuchenden auf die Länder der EU geben. »Das Geschacher, wenn 30 oder 40 Menschen auf den Booten festsitzen und niemand hilft, ist Europas unwürdig.« Jeder müsse das Recht haben, seinen Fall vorzutragen – und nicht ertrinken zu müssen.

Angesichts der aktuellen Zustände sprach die deutsche Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bereits im vergangenen Jahr von einem »Déjà-vu der Schande«. Im Juli 1938 waren im französischen Evian Delegierte aus 32 Staaten zusammengekommen, um über die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge und anderer Verfolgter des deutschen Naziregimes zu beraten. Die Konferenz scheiterte, denn kein europäisches Land erklärte sich damals bereit, Flüchtlinge aufzunehmen oder zumindest die Einreisebedingungen zu lockern.

Für die Menschen blieb damit nur die Flucht über das Meer. Am 27. Mai 1939, heute vor 80 Jahren, erreichte der Dampfer »St. Louis« die Bucht von Havanna in Kuba. An Bord waren mehr als 900 Passagiere, fast alle jüdische Emigranten. Sie hatten in Deutschland ihren gesamten Besitz verkaufen müssen, um die teure Passage und die Einreisegenehmigung für Kuba bezahlen zu können. Für die meisten war Kuba nur eine Durchgangsstation, das eigentliche Ziel waren die USA.

Doch die Behörden verweigerten der »St. Louis« die Genehmigung zum Anlegen. Wenige Tage zuvor hatte Präsident Federico Laredo Brú die Einwanderungsbestimmungen geändert und die bereits ausgestellten Visa für ungültig erklärt. Nun wurde von den Ankommenden verlangt, sich die Einreise sowohl vom Staats- als auch vom Arbeitsministerium genehmigen zu lassen und außerdem 500 Dollar zu zahlen. Kaum einer konnte diese Forderung erfüllen.

Die Verschärfung war vor allem dem Druck der reaktionären Presse geschuldet, die angesichts einer ansteigenden Erwerbslosigkeit warnte, dass die Ankommenden weitere Konkurrenten um Beschäftigungsmöglichkeiten seien. Auch Nazis waren in Kuba aktiv, um die öffentliche Meinung gegen die Juden aufzubringen – denn in Deutschland diente die Ablehnung der Flüchtlinge als Rechtfertigung der Verfolgungspolitik. Wenn niemand auf der Welt sie haben wolle, könne der Antisemitismus der Nazis ja nicht ganz falsch sein.

Schließlich durften nur 29 Passagiere nach Kuba einreisen, unter ihnen vier Spanier und zwei Kubaner. Doch noch immer hofften mehr als 900 Menschen darauf, an Land gehen zu können. Der Kapitän der »St. Louis«, Gustav Schröder, bemühte sich um eine Lösung. Er verhandelte mit der kubanischen Regierung und bat auch US-Präsident Franklin D. Roosevelt um Hilfe. Doch der bereitete sich auf die Präsidentschaftswahlen 1940 vor und beugte sich dem Druck der Demokratischen Partei, die eine Aufnahme der Menschen ablehnte. Auch Kanada verweigerte der »St. Louis« die Genehmigung zum Anlanden.

Daraufhin ordnete die Reederei Hapag die Rückkehr nach Deutschland an. Schröder versuchte weiterhin, seine Passagiere zu retten, und sagte später aus, dass er sogar überlegt habe, vor der britischen Küste eine Havarie vorzutäuschen, damit die Menschen von Großbritannien aufgenommen würden. Schließlich erlaubte Belgien der »St. Louis« das Anlegen in Antwerpen. Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien nahmen Gruppen von Passagieren auf.

Doch für viele war es nur eine kurze Rettung. Als 1940 die deutsche Wehrmacht Frankreich, Belgien und die Niederlande besetzte, gerieten sie wieder in Gefahr. Nach Angaben von Historikern wurden 254 der einstigen Passagiere der »St. Louis« in den Lagern der Faschisten ermordet.

In Hamburg trägt heute ein Park nahe des berühmten St.-Pauli-Fischmarkts den Namen von Kapitän Schröder, an den Landungsbrücken erinnert eine Gedenktafel an die Passagiere der »St. Louis«. Kanadas Premier Justin Trudeau entschuldigte sich im vergangenen November für die »herzlose« Entscheidung der damaligen kanadischen Regierung, die Schutzsuchenden nicht aufzunehmen.

Erschienen am 27. Mai 2019 in der Tageszeitung junge Welt