Das Schicksal der „Revolution des Simón Bolívar“

In einem Punkt sind sich alle Beteiligten einig: Venezuela stehen am 28. Mai die wichtigsten Wahlen seiner Geschichte bevor. An diesem Tage werden vom Dorfvorsteher bis zum Staatspräsidenten sämtliche Organe der „Bolivarianischen Republik Venezuela“, wie das Land seit der Annahme der neuen Verfassung vor wenigen Monaten offiziell heißt, neu gewählt.

Diese „Mega-Wahl“ wurde durch die tiefgreifenden Strukturreformen notwendig, mit deren die neue Verfassung die „Fünfte Republik“ begründen will. Und sowohl die AnhängerInnen des Präsidenten Hugo Chávez als auch seine GegnerInnen, unter ihnen die venezolanische Oligarchie, die bislang etablierten Parteien und die USA, sehen in diesem Wahltermin die entscheidende Auseinandersetzung über das weitere Schicksal der „Revolution des Simón Bolívar“.

Seit Hugo Chávez an der Spitze des „Patriotischen Pols“, eines heterogenen Blocks praktisch der gesamten venezolanischen Linken, am 6. Dezember 1998 die Präsidentschaftswahl gewann und mit seiner Amtsübernahme im Februar 1999 die „Revolution des Simón Bolívar“ gegen Abhängigkeit und Korruption ausrief, geht in Venezuela ein Reformprozess vor sich, den Heinz Dieterich Steffan nicht völlig unberechtigt euphorisch als die „erste Revolution in Lateinamerika seit Nicaragua 1979“ bezeichnet hat. Auch andere Vergleiche werden herangezogen, um die Vorgänge in Venezuela zu beschreiben. So der wenig schmeichelhafte mit dem Argentinien Peróns, da Chávez mit diesem das Talent für populistische Parolen teilt, aber auch mit dem Chile Allendes, da die „Revolution des Simón Bolívar“ bislang strikt im Rahmen des Parlamentarismus vor sich gegangen ist.

Nachdem Hugo Chávez, den sie in Venezuela auch den Comandante nennen, 1992 mit dem Versuch eines Militärputsches gescheitert war und mehrere Jahre im Gefängnis verbrachte, schlug er mit seiner Partei „Bewegung der V. Republik“ (MVR) den legalen Weg über die Wahlen ein. Dabei kam ihm die zunehmende Legitimationskrise der bis dahin vorherrschenden Parteien AD und COPEI zugute, die in ihren abwechselnden Regierungszeiten der allgegenwärtigen Korruption nicht nur nicht zu Leibe rücken konnten, sondern längst selbst Teil des Problems geworden waren. Als die Umfragen Ende 1998 immer deutlicher machten, dass ein Wahlsieg Chávez´ wahrscheinlich geworden war, zogen noch wenige Tage vor dem Wahltermin AD und COPEI ihre Präsidentschaftskandidaten zurück und riefen ihre AnhängerInnen auf, den rechtsextremen Unternehmer Salas Romer zu wählen. Doch Hugo Chávez erzielte eine deutliche absolute Mehrheit der Stimmen, während sich AD und COPEI mit wenigen Prozentpunkten begnügen mussten.

Kaum an der Regierung, ließ Hugo Chávez den Termin für eine Volksabstimmung festlegen, mit der die VenezolanerInnen entscheiden sollten, ob sich das Land eine neue Verfassung geben solle. Es war die erste Volksabstimmung in der Geschichte des Landes überhaupt und eine überwältigende Mehrheit stimmte bei einer allerdings geringen Wahlbeteiligung für die Erarbeitung einer neuen Verfassung durch eine neue Verfassunggebende Versammlung, die „Constituyente“.

Die Wahlen zu dieser „Constituyente“ im Frühsommer 1999 endeten mit einem noch größeren Triumph für den „Polo Patriótico“. Von den 130 gewählten Abgeordneten der Versammlung gehörten gerade noch einmal sieben der rechten Opposition an. Es begann die Zeit einer gewissen Doppelherrschaft von „Constituyente“, die als eine ihrer ersten Maßnahmen die obersten Richter des Landes entließ, und dem alten, noch von den etablierten Parteien beherrschten Zwei-Kammern-Parlament. Gegen die deutliche Unterstützung der „Constituyente“ durch die Mehrheit der VenezolanerInnen und starke Mobilisierungen auf den Straßen der Hauptstadt Caracas konnte sich das alte Parlament jedoch nicht behaupten, und nach einigen spannungsgeladenen Wochen, in denen sich zeitweilig die Abgeordneten des bisherigen Parlamentes und AnhängerInnen des Präsidenten Chávez auf der Straße gegenüber standen, hatte sich die „Constituyente“ als eigentliche Legislative durchgesetzt.

Die Verfassunggebende Versammlung erarbeitete einen Verfassungstext, der von BeobachterInnen als „die modernste Verfassung des Kontinents“ bezeichnet wird. Nicht nur wurde in einem gegen die Einmischung der USA gerichteten Artikel die „nationale Souveränität“ Venezuelas festgeschrieben, sondern auch den indigenen Minderheiten so weitgehende Rechte zugestanden, dass die Rechte von einer „Spaltung des Landes“ lamentierte. Die Politik des „Verschwindenlassens“, mit der die LateinamerikanerInnen so traurige Erfahrungen machen mussten, ist in der neuen Verfassung ausdrücklich verboten. Das Verbot der Abtreibung, das bisher Verfassungsrang hatte, wurde gelockert, indem das Recht auf Leben nur noch vom Beginn der Geburt, und nicht mehr „vom Augenblick der Empfängnis“ an garantiert wird.

Die neue „bolivarianische“ Verfassung wurde am 15. Dezember 1999 mit überwältigender Mehrheit angenommen und beschert den VenezolanerInnen nun die „Mega-Wahl“ vom 28. Mai.

Auch wenn sich der venezolanische Reformprozess noch im Wesentlichen im institutionellen Rahmen bewegt und entschiedene wirtschaftspolitische Maßnahmen meist noch auf sich warten lassen, hat die Regierung des „Polo Patriótico“ auch außerhalb der Entwicklung der neuen Verfassung eine Politik entwickelt, die in eine neue Richtung weist. Dies mussten als erste die USA registrieren, als die venezolanische Regierung ihnen die Überflugrechte entzog, wodurch die als „Anti-Drogen-Kampf“ getarnten Flüge der US-Air Force gegen die kolumbianischen Guerilla-Gebiete erschwert werden. Präsident Chávez versteht sich blendend mit Kubas Comandante Fidel Castro und bezeichnet nicht nur diesen und Che Guevara als seine Vorbilder, sondern auch gemeinsam mit dem Befreier Simón Bólivar als den „Weg, dem Lateinamerika folgen muss“. Die in Guayana regierende „People´s Progressive Party“, eine Partei mit kommunistischen Wurzeln, die auch heute noch Beziehungen zur DKP pflegt, notierte in ihrer Zeitschrift erfreut, dass Venezuela die alten Versuche, sich Guayana einzuverleiben, aufgegeben habe und nun die Chance auf gute Nachbarschaft besteht. Die Zeitung veröffentlichte ein Foto, das Chávez und den guayanischen Präsidenten in freundschaftlicher Umarmung zeigt.

Als im Dezember 1999 eine schwere Unwetterkatastrophe Venezuela heimsuchte, Zehntausende von Menschen in den Tod riss und Hunderttausende obdachlos werden ließ, zeigte die venezolanische Regierung, was sie gelernt hatte. Tausende Soldaten wurden nach Hause geschickt, um in den Kasernen Platz für die Opfer der Katastrophe zu schaffen, sogar im Präsidentenpalast wurden Obdachlose untergebracht. Sofort begann ein groß angelegtes Wohnungsbauprogramm und schon wenige Wochen nach der Katastrophe konnten Tausende von Wohnungen übergeben werden. ExpertInnen wie Umweltverbände zeigten sich beeindruckt von Chávez´ Plan, die dünn bewohnten Regionen des Landes zu besiedeln, um die völlig überbevölkerten Teile zu entlasten. Und viele Menschen in Lateinamerika registrierten den scharfen Kontrast zwischen dieser Reaktion und dem skandalösen Umgang verschiedener mittelamerikanischer Regierungen mit den Folgen des Hurricanes „Mitch“.

Doch es ist offensichtlich, dass sich Chávez mit seinem Programm Feinde unter den bislang unangefochten Herrschenden macht. Nicht nur, dass die allermeisten Medien ununterbrochen gegen den gewählten Präsidenten Front machen, auch die USA mischen sich dreist in Venezuelas innere Angelegenheiten ein. Am 15. März präsentierten sie Francisco Arias Cárdenas als ihren Mann für die Präsidentschaftswahlen und alle GegnerInnen Chávez´ scharen sich seitdem begeistert um ihn und lassen sich auch nicht davon irritieren, dass Arias Cárdenas versucht, Chávez mit radikal klingenden Redensarten das Wasser abzugraben. In der Tat ist die Präsentation von Arias Cárdenas ein geschickter Coup der Rechten, denn dieser stammt aus der eigenen Bewegung von Hugo Chávez und hatte sich an dem Putschversuch von 1992 beteiligt. Esteban Emilio Mosonyi von der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV), die den „Polo Patriótico“ von Anfang an stützt und auch mit eigenen VertreterInnen an der Erarbeitung der neuen Verfassung beteiligt war, kommentiert diesen Schachzug bei einer Solidaritätsveranstaltung in Mexiko als „eine Politik, die unseres Erachtens hochgradig in den Küchen des nordamerikanischen State Department, des Pentagon und der CIA zusammengebraut worden ist.“ Und weiter: „Wir sehen vor uns eine Lügenkampagne der Respektlosigkeit gegen den Präsidenten, aber all das wird nichts nutzen, sie wird scheitern an der Kraft der Fünften Republik, der Bolivarianischen Verfassung und des laufenden Prozesses; zu nichts nutzt der Antikommunismus aus typischer Yankee-Produktion und ein Anti-Kubanismus und Anti-Fidelismus, die die Unterstützung der Miami-Mafia für Arias bloßlegten; all dieses wird zerschmettern an der Mauer des Volkes, das die Präsidentschaft Chávez, den Prozess der Veränderungen und der sozialen Revolution unterstützt und unterstützen wird.“

Mosonyi schließt mit den Worten: „Venezuela ist heute mit seinem besonderen revolutionären Prozess ein großes Beispiel und eine große Hoffnung für die Völker Lateinamerikas und der Karibik. Diesen Prozess aus der Nähe zu verfolgen ist fundamental, den aus ihm werden viele der Veränderungen hervorgehen, die der Kontinent heute braucht. Sein Volk heute nicht allein zu lassen, ist ebenso fundamental. Dsa Banner der Solidarität mit der Revolution und dem Volk von Venezuela ist grundlegend in diesem Moment. Die erbitterten Feinde unserer Völker, die nordamerikanischen Imperialisten und die großen Monopole, konspirieren in den unterschiedlichsten Formen, um diesen Prozess abzubrechen und nieder zu ringen.“

Es bleibt auch nach dem 28. Mai und einem Wahlerfolg des „Polo Patriótico“ und des Präsidenten Hugo Chávez unsicher, wohin sich die „Revolution des Simón Bolívar“ entwickeln wird. Unsere GenossInnen in Lateinamerika und Spanien allerdings haben die Bedeutung, die in den Entwicklungen in Venezuela steckt, bereits erkannt, diskutieren die Perspektiven und organisieren die Solidarität. Venezuela demonstriert heute vor den Augen der Welt die Möglichkeit des Ausbruchs aus den Klauen des Imperialismus und des Neokolonialismus der „Globalisierung“. Das bolivarianische Venezuela verdient unsere Solidarität.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 19. Mai 2000