Chile jubelt

Chiles Präsident Sebastián Piñera stimmte die Nationalhymne an, 33 Luftballons in den Farben des südamerikanischen Landes stiegen in den Himmel über der Atacama-Wüste. In den Städten wurde das »Wunder« mit Autokorsos und Hupkonzerten gefeiert. Am späten Mittwoch abend (Ortszeit) erreichte der letzte der 33 seit 70 Tagen verschütteten Bergleute die Erdoberfläche und wurde wie seine zuvor befreiten Kollegen von Angehörigen, Hilfskräften und Schaulustigen begeistert begrüßt. Luis Urzúa, der am 5. August als Schichtleiter in den Schacht eingefahren war und das Gefängnis in 700 Metern Tiefe als Letzter verließ, stellte sich gemeinsam mit dem Staatschef den Pressevertretern aus aller Welt. Nachdem er Piñera symbolisch seinen Posten übergeben und den zahlreichen Helfern für die Befreiung gedankt hatte, forderte er den Staatschef zu Konsequenzen auf. Ein solches Ereignis dürfe sich niemals wiederholen, forderte Urzúa: »Ich bin stolz darauf, was für uns getan wurde, aber ich hoffe, daß so etwas nie wieder passiert.« Der 54jährige ist seit 31 Jahren Bergmann. Sein Vater gehört zu den »Verschwundenen«, die während der Pinochet-Diktatur verschleppt und ermordet wurden. In den über zwei Monaten in Gefangenschaft wurde Urzúa zur Führungsfigur der Eingeschlossenen, hielt die Gruppe in allen Situationen zusammen und schaffte es trotz unvermeidlicher Konflikte, immer wieder für Ruhe und Zusammenhalt unter den Leidensgefährten zu sorgen.

Während die Bergungsarbeiten schneller als erwartet fortgeführt wurden und die Geretteten zu einer ersten ärztlichen Untersuchung in das Krankenhaus von Copiapó gebracht wurden, demonstrierten ihre Kollegen erneut außerhalb des um das Bergwerk errichtete Lager gegen das Betreiberunternehmen San Esteban Primera. Noch immer haben die Besitzer der Unglücksmine den Kumpeln, die sich bei der Katastrophe aus dem Stollen hatten retten können, die Gehälter und Prämien für die zwei vergangenen Monate nicht vollständig ausgezahlt, nur das Septembergehalt wurde einigen der Bergleute überwiesen. Der Regionalvorsitzende des Gewerkschaftsbundes CUT, Javier Castillo, forderte auf der Kundgebung außerdem, daß sich das Unternehmen um eine Ausbildung der jungen Bergleute für andere Tätigkeiten kümmern müsse, während den älteren Beschäftigten der Ruhestand gewährt werden sollte. Der Parlamentsabgeordnete Lautaro Carmona, der seit 2009 den Bergwerksbezirk Chañaral, Copiapó und Diego de Almagro im chilenischen Abgeordnetenhaus vertritt, forderte bei der Demonstration Staatspräsident Piñera auf, seinem Wort Taten folgen zu lassen, daß Chile nach der Heldentat der Arbeiter und Rettungskräfte nicht mehr dasselbe sei. Auch die Arbeitswelt dürfe nicht mehr die- selbe sein. Deshalb habe er im Parlament beantragt, daß Chile endlich die bereits 1995 unterzeichnete Konvention 176 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Sicherheit und Gesundheitsversorgung im Bergbau übernimmt. »Unser Land ist praktisch das einzige des Kontinents, das diese nicht ratifiziert hat, obwohl wir ein Bergbauland sind, dessen wichtigste Einnahmen aus der Förderung der Bodenschätze stammen«, erklärte Carmona, der auch Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles ist.

In Madrid würdigte der internationale Vertreter der Mapuche-Partei Wallmapuwen, Héctor Cumilaf, die Leistungen der Retter, bedauerte aber, daß besonders das chilenische Fernsehen die Tragödie der Bergleute zu einer »Reality Show« gemacht und zugleich kein Wort über die Lage der Kumpel verloren habe, die nicht in der Mine gefangen waren.

Die Kosten der Rettungsaktion bezifferte Piñera auf zwischen 10 und 20 Millionen Dollar (sieben bis 14 Millionen Euro). Die Ausgaben seien zu zwei Dritteln vom Staat übernommen worden; der Rest sei über Spenden finanziert worden, so der Staatschef. Die Tageszeitung La Tercera informierte, daß mehrere private Bergbauunternehmen zusammen etwa fünf Millionen Dollar beigetragen hätten, die Betreiber der Unglücksmine gehörten jedoch nicht dazu.

Erschienen am 15. Oktober 2010 in der Tageszeitung junge Welt